Im September 2004 braut sich ein mittleres geschichtspolitisches
Gewitter über dem halleschen Gertraudenfriedhof zusammen. Ausgelöst
von einer Tafel, die Auskunft über 117 Häftlinge aus dem
Sowjet-Lager Torgau geben soll, deren Urnen zwischen 1950 und 1953
anonym auf dem Friedhof verscharrt worden sind und die seit 2003
über eine vor Ort gestaltete Grabanlage verfügen.
Der hallesche Zeitgeschichte(n)-Verein steht für das Projekt,
der "Interessenverband ehemaliger Teilnehmer am antifaschistischen
Widerstand, Verfolgter des Naziregimes und Hinterbliebener"
(IVVdN) dagegen. Vor allem ein Mann ist es, der in den Debatten
zu Wort kommt und sehr genau weiß, dass es mehrheitlich "ordentlich"
abgeurteilte "Kriegsverbrecher" seien, die da in dem Urnenhain
ihre Ruhe fanden. Nicht nur die Tafel müsse verschwinden, sondern
"der Platz vor den Grabsteinen".
Jupp Gerats, Jahrgang 1919, Landes-Chef des IVVdN in Sachsen-Anhalt,
kämpft mit allen ihm verfügbaren politischen und medialen
Mitteln. Sein Engagement gilt dabei als von seiner eigenen Biografie
gedeckt: Widerstand gegen das NS-Regime von 1933 bis 1945, Partisanenkampf,
Internierung, Zwangsarbeit, Wehrunwürdigkeit und Desertion.
Von all dem aber könne nach Prüfung der Akten gar keine
Rede sein, weist der hallesche Historiker Frank Hirschinger in seiner
Studie "Fälschung und Instrumentalisierung antifaschistischer
Biographien. Das Beispiel Halle / Saale 1945-2005" nach. "Vom
Wehrmachtsgefreiten zum Antifa-Funktionär" ist das Kapitel
"Der Fall Jupp Gerats" überschrieben, eines von acht
Beispielen, die Fälschungen von Biografien nachweisen.
Auskunft im Fragebogen
Josef "Jupp" Gerats wird 1919 in Goch am Niederrhein geboren
und zieht 1934 mit seiner Mutter und seinem älteren Bruder
- beide von den Nazis verfolgt - in die Emigration nach Holland.
Der Junge, der bis 1933 der Katholischen Jugendbewegung angehörte,
will - ohne Nennung stichhaltiger Zeugen - bis 1938 einer Widerstandsgruppe
angehört, sich aber dann aus ideologischen Unstimmigkeiten
zurückgezogen haben. Tatsächlich wird Gerats 1938 Vater
eines Sohnes und lässt sich von den holländischen Behörden
legalisieren. Nach dem deutschen Einmarsch 1940 werden seine Mutter
und sein Bruder interniert, Jupp Gerats aber nicht. 1943 zur Wehrmacht
einberufen, kehrt er 1949 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft
zurück, um in und um Halle eine SED-Kader-Karriere zu absolvieren.
In einem Fragebogen von 1949 vermerkt Gerats, dass er weder politisch,
noch "rassisch" oder religiös verfolgt worden sei.
Fragen nach Inhaftierungen beantwortet er negativ. In einem Lebenslauf
aus demselben Jahr erklärt er seine Einberufung zur Wehrmacht,
von "Wehrunwürdigkeit" ist keine Rede. Deshalb wird
Gerats 1949 - im Gegensatz zu seiner Mutter und seinem Bruder -
nicht als "Opfer des Faschismus" anerkannt.
Für die Öffentlichkeit aber baut sich das Bild des "Widerstandskämpfers"
auf, bis hin zur Bezeichnung des Nicht-Juden Gerats als "Holocaust-Überlebender".
Nach 1989 redet dieser plötzlich von einer Bekanntschaft mit
Anne Frank, die zuvor nie erwähnt worden ist. Entweder, meint
Hirschinger, befand Gerats diese für unerheblich, was erstaunen
würde, oder sie hat nicht stattgefunden. In den holländischen
Archiven ist Gerats als Widerständler nicht nachweisbar.
Für Hirschinger ist der Fall Gerats insofern interessant,
als er beispielhaft vorführt, wie auch antifaschistische Biografien
nach 1945 gefälscht worden sind, um tagespolitischen Interessen
zu dienen - und das bis in die Gegenwart, wie der Streit um die
Torgau-Urnen zeigt. So recherchiert Hirschinger detailgenau Fälle
von Kommunisten, die - ebenfalls auf dem Gertraudenfriedhof - in
der "Gedenkstätte der Kämpfer für Frieden und
Sozialismus" geehrt werden, die einst reihenweise Genossen
an die Gestapo verrieten. Auch der tragische Fall des homosexuellen
Schwerathleten Kurt Wabbel (1901-1944) rückt in den Blick,
der als "Funktionshäftling" im KZ keinesfalls, wie
in der DDR behauptet, von der SS ermordet wurde, sondern - wie die
Akten zeigen - entweder den Freitod wählte oder von Mithäftlingen
getötet worden ist. Da ist die KPD-Funktionärin Martha
Brautzsch, die 1946 bei Halle keinesfalls von "Kräften
der Reaktion" erschossen wurde, sondern von einem marodierenden
Sowjetsoldaten. Vertuschung schlug in Propaganda um, die sich in
der DDR ihre Denkmäler in Gebäude- und Straßennamen
schuf. Offenbar gab es weniger unangefochtene Kommunisten, als es
Posten und Postamente zu besetzen galt.
Schreiben ohne Antwort
In einem Brief vom Dezember 2004 weist Jupp Gerats alle Anfragen
von Frank Hirschinger - ohne sie zu beantworten - als "zusammenhanglos"
und ehrabschneidend zurück. Er verweist auf seine Verbands-Kameraden,
die seine Biografie "sehr gut beurteilen" könnten.
"Ihr Vertrauen ist für mich entscheidend." Was heißt,
dass es völlig unerheblich sei, ob für die Öffentlichkeit,
um deren Vertrauen man wirbt, die behauptete Legitimation politischen
Handelns nachvollziehbar sei oder eben nicht.
Buchpremiere in Leipzig & Halle
Montag: Vortrag und Diskussion mit Frank Hirschinger und Ehrhart
Neubert in Leipzig, Museum in der "Runden Ecke", Dittrichring
24, 19 Uhr.
Dienstag: Vortrag, Lesung, Diskussion mit Frank Hirschinger
und Ehrhart Neubert in Halle, Gedenkstätte "Roter Ochse",
Am Kirchtor, 19 Uhr.
Das Buch: Frank Hirschinger: "Fälschung und
Instrumentalisierung antifaschistischer Biographien. Das Beispiel
Halle / Saale 1945-2005", Göttingen, V & R unipress,
175 Seiten, 22,90 Euro.
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