Für ein Seminar ihres Kunststudiums, in dem sie sich mit dem Thema Mimikry auseinandersetzen sollte, fand die Hallenserin Liane Pförtner ein Thema mit Geschichte. Mimikry bezeichnet in der Biologie die Nachahmung anderer Arten zum Schutz des eigenen Lebens. Die Künstlerin erinnerte sich an die sogenannte Tripperburg in der Kleinen Klausstraße. Was dort bis 1982 geschah, wurde Ausgangspunkt für ihre Arbeit VERDECKT. Die Plastik wurde bisher einmal direkt an der ehemaligen Poliklinik-Mitte, beim RoomBoom-Festival in Schkeuditz und in der Klassenausstellung der Textilen Künste im Volkspark gezeigt. Neue Ausstellungsorte werden gesucht.
Zur Arbeit:
„VERDECKT“– Plastik, 2021, Material Steinpappe(Liane Pförtner)
Das Kunstwerk nimmt Bezug zu einem historisch politisch relevanten Ort in Halle, Saale – der Venerologischen Station des ehemaligen Stadtkrankenhauses, der Poliklinik Mitte.
Hier wurden von 1961-1982 in der DDR Frauen und Mädchen1 (ab dem 12. Lebensjahr) unter dem Vorwand einer Geschlechtskrankheit – in vielen Fällen jedoch ohne medizinische Notwendigkeit, zudem ohne Aufklärung und Einwilligung – zwangseingewiesen. Sie wurden unter dem priorisierten Ziel der „Umerziehung zu sozialistischen Persönlichkeiten“ menschenunwürdig behandelt und folgenschwer verletzt.
Erst im Jahre 2000 gelangten die Untaten der „Poli Mitte“ an die Öffentlichkeit und sind selbst heute noch überwiegend unbekannt. Daher entstand diese Arbeit, um ein Mahnmal zu setzen, dieses Unrecht zu erinnern und den Betroffenen zu gedenken.
In der folgenden Ausführung geht es inhaltlich sowohl um physische als auch um psychische Gewalt durch „erzieherische“ Einwirkung auf der geschlossenen Station der Poliklinik.
Umgangssprachlich wurde dieser Ort verächtlich „Tripperburg“ genannt. Ähnliche Einrichtungen gab es zu DDR-Zeiten u. A. auch in Berlin, Dresden, Leipzig, Rostock, Schwerin, Erfurt und Gera. Jede davon ausschließlich für die Einweisung von Frauen.
Vielmals wurden Personen eingewiesen, die gar keine Geschlechtskrankheiten hatten. Etwa 70% der Untersuchten waren gesund.
Sie wurden in dieser Abteilung massiv unter Druck gesetzt, gequält, misshandelt und lebten unter haftähnlichen Bedingungen. Belegt sind unter anderem die Kahlscherung, Zwangstätowierungen, die Übernachtung auf einem Hocker in einer geschlossenen Gitterbox, lähmende Spritzen oder auch brutale, mit traumatischen Ereignissen und psychischer Erniedrigung verbundene, gynäkologische Untersuchungen.
„Abschaum“, „Nutten“ und „nichts als Dreck“ waren die Bezeichnungen des leitenden Arztes der V-Station, Dr. Gerd Münx, für die Patientinnen. Seiner Meinung nach, oftmals auch der des medizinischen Personals, hatten viele Patientinnen Geschlechtskrankheiten mutwillig verbreitet. Um dies zu verhindern mussten sie „medizinisch versorgt“, aber vor allem „pädagogisch unterwiesen“ werden.
Die Behandlungen enthielten Misshandlungen und das absichtliche Zufügen von Schmerzen. Zum Beispiel durch die Verwendung eines übergroßen Glasrohres zur gynäkologischen Untersuchung. Gleichzeitig wurden sie durch Manipulation in Form von Belohnung und Bestrafung gefügig gemacht.
Viele Gewaltakte wurden auch an Stubenälteste delegiert, welche teilweise mit dem Personal kooperierten, um eigene Vorteile zu erlangen. Beispielsweise das Verprügeln von Patientinnen unter einer grauen Wolldecke, um die Identität der Täterinnen zu verdecken.
Ebendiese Decken dienten perfider weise auch dem Ausfiebern nach den unverhältnismäßig verabreichten Fieberspritzen.
Diese zur Drangsalierung eingesetzten Spritzen wurden vorgeblich verwendet, um Syphilis und Tripper „auszufiebern“ und hatten u. A. Schüttelfrost, Bewusstlosigkeit, Erbrechen und gelähmte Beine zur Folge, in mindestens einem der Fälle sogar den Tod einer Patientin.
Auch nach der Entlassung waren die Patientinnen in die Struktur der Überwachung integriert und waren zur Meldung in der zentralen Fürsorgestelle verpflichtet, wo sie regelmäßig gynäkologisch untersucht wurden. Wer Geschlechtsverkehr gegen ärztliche Anweisung hatte, die Meldepflicht oder Nachkontrolle versäumte, wurde sofort angeschrieben. Bei weiterer Zuwiderhandlung wurde umgehend die Polizei informiert, die für die Einweisung in die geschlossene V-Station sorgte.
Die beschriebenen Maßnahmen an „nicht-systemkonformen“ und so bezeichneten „asozialen“ Personen fanden auf der V-Station der Poliklinik Mitte vorgeblich im Sinne des „sozialistischen Zusammenlebens“ statt. Allerdings waren sie auch nach DDR-Recht nicht zulässig, was unter Anderem zur späteren Schließung im Jahre 1982 beitrug.
Spätfolgen, an denen die Betroffenen bis heute leiden, sind vor allem Angst vor gynäkologischen Untersuchungen und Ärzten im Allgemeinen, Schlafstörungen, sexuelle Unlust, Inkontinenz, gewisse Unfähigkeit stabile und kontinuierliche Partner*innenschaften einzugehen, Kinderlosigkeit.2
(Fotos und Text: Liane Pförtner)
Instagram Profil der Künstlerin: @liane.immergruen
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1 Die Begriffe „Frauen“ und „Mädchen“ sowie die weibliche Form, beziehen sich in dieser Ausführung auf alle Menschen, die entsprechend der binären Geschlechterkonstruktion gesellschaftlich als weiblich gelesen und sozialisiert wurden und aus diesem Grund von den damit einhergehenden dargestellten gesellschaftlichen Strukturen betroffen waren und unter den Folgen entsprechender patriarchaler Umgangsweisen leiden mussten. Darin eingeschlossen sind Menschen, die sich selbst nicht als „Frau“ identifizier(t)en und dennoch durch das konstruierte binäre Geschlechtersystem als „Frauen“ kategorisiert wurden und Betroffene waren.
2 Informationen, die die Grundlage dieses Textes bilden, stammen aus dem Buch „Disziplinierung durch Medizin“ von Florian Steger und Maximilian Schochow