Das jubelnde Volk

Erinnerung an den Volksaufstand im Juni 1953

60.000 Menschen - Männer, Frauen, alte und junge Menschen versammelten sich am 17. Juni 1953 auf dem Hallmarkt in Halle, um ihrer Unzufriedenheit mit der Politik der Regierungspartei der DDR Ausdruck zu verleihen. Sie gingen auf die Straße, um gegen die beschlossenen Arbeitsnormerhöhungen zu protestieren, aber auch für bessere Lebensbedingungen, freie Wahlen und Freilassung der vielen politischen Gefangenen. Viele hofften auf eine Wiedervereinigung Deutschlands. Doch der Aufstand, der ausgehend von Berlin in vielen Städten und sogar Dörfern der DDR stattfand, wurde durch Sowjetsoldaten, Polizisten, Panzer und Bajonette gewaltsam beendet und zur faschistischen Provokation des Westens umgeschrieben.

Die Ereignisse in Halle wurden nur von einer Handvoll Menschen fotografisch dokumentiert. Darunter waren der Fotograf und Kameramann Albert Ammer und seine Assistentin Jutta-Regina Lau, die die Kamera holten und in die Stadt fuhren, um das Ereignis zu filmen. Dafür wurde Albert Ammer zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach Ablauf der Haft flüchtete er nach Westdeutschland.

„Ich war mit Dreharbeiten für die DEFA in Halle beschäftigt, als der Volksaufstand am 17. Juni ausbrach. Ein Ereignis, welches wir schon lange erwarteten und wünschten. Mit meiner Kamera filmte ich das jubelnde Volk, wie wir es schon viele Jahre nicht mehr kannten." (Albert Ammer, 1962 in persönlichen Aufzeichnungen)

Der Film Albert Ammers ist bis heute verschollen. Das Ministerium für Staatssicherheit fertigte aus dem Film einzelne Fotos an, um Teilnehmer des Aufstands identifizieren und bestrafen zu können.

Anlässlich des 70-jährigen Jubiläums ist eines dieser Bilder von Albert Ammer auf der Treppe am Hallmarkt zu sehen.
Mit der Installation erinnert der Zeit-Geschichte(n) e.V. im Juni und Juli 2023 an die Geschehnisse des 17. Juni in Halle.
Das Projekt wird gefördert von Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.


 
Mit den Bildern seines Vaters setzte sich der Publizist Alexander K. Ammer auseinander. Das Buch Alberts Bilder bleiben erschien im April 2023.

Wie kam es zum Aufstand in Halle?

Text: Dr. Udo Grashoff

Mangelwirtschaft und politische Unterdrückung - zur Vorgeschichte des 17. Juni

"Lebensmittel waren rationiert. Allein von den Lebensmittelkarten konnte man nicht leben."
Die Mehrheit der Bevölkerung sah in der politischen Lage der SBZ/DDR seit Kriegsende eine Fehlentwicklung. Repressionen prägten das politische Klima. Kritik an der SED wurde hart bestraft. Pfarrer und Mitglieder der „Jungen Gemeinde“ wurden kriminalisiert und verfolgt. Lebensmittel waren rationiert. Allein von den Lebensmittelkarten konnte man nicht leben. Zwar verkauften die staatlichen HO-Läden zusätzliche Nahrungsmittel - aber oft zum dreifachen Preis. Und so einfache Dinge wie Rasierklingen, Lederschuhe oder Margarine gab es nicht einmal hier. In dieser Situation empfand die Bevölkerung schon die Erhöhung des Marmeladepreises als einschneidendes Ereignis. Seit 1952 wurde die Gesellschaft im Zuge des „Kalten Krieges“ umfassend militarisiert. Die Kasernierte Volkspolizei (KVP) entstand. Da die hierfür benötigten Gelder außerplanmäßig abgezweigt wurden, verschlechterte sich die ohnehin katastrophale Versorgungslage der Bevölkerung weiter. Die SED machte angebliche Saboteure und Schmarotzer zu Sündenböcken für die selbst erzeugte Misere: Bauern, die das Abgabensoll nicht erfüllten, standen nicht selten vor der Wahl: Gefängnis oder Flucht in den Westen. Kleinunternehmer wurden wegen geringfügigem Schwarzhandel enteignet und ins Gefängnis gebracht. In den Betrieben wurden die Gewerkschaften von der SED beherrscht. Gleichzeitig versuchte die Regierung, die Arbeiter zu einer "freiwilligen" Erhöhung der Arbeitsleistung zu bewegen. Die oft als Erpressungsversuch empfundene Propaganda verstärkte den Unmut der Arbeiter. Am 15. Mai verfügte die SED eine zehnprozentige Normerhöhung - was praktisch eine Senkung der Löhne bedeutete. Auf Druck Moskaus revidierte die DDR-Regierung am 9. Juni einen Großteil ihrer bisherigen Politik, indem sie überraschend einen „Neuen Kurs“ verkündete. Viele SED-Mitglieder waren zutiefst verunsichert. Gerüchte kursierten. An den Stammtischen prophezeite man, der Umbruch sei nah. Ein Leserbrief, der in der „Freiheit“ vom 15. Juni abgedruckt wurde, sah im „Neuen Kurs“ bereits einen Schritt in Richtung Wiedervereinigung. Der „Neue Kurs“ - von den Arbeitern als Eingeständnis der Schwäche empfunden - weckte die Hoffnung, dass durch Streiks und Demonstrationen auch die Normerhöhungen rückgängig gemacht werden könnten. Ausgelöst wurde der republikweite Arbeiteraufstand durch den Streik der Bauarbeiter der Berliner Stalinallee am Tag zuvor.

Ein spontaner Arbeiteraufstand

"Am 17. Juni bildeten sich zu Beginn der Frühschicht Gruppen von Arbeitern, die darüber diskutierten, ob man sich dem Streik der Berliner Bauarbeiter anschließen solle."
Bereits Anfang Juni hatte das SED-Blatt „Freiheit“ berichtet, dass sich Arbeiter in der Lokomotiven- und Waggonfabrik Ammendorf (LOWA) weigerten, die Normerhöhung zu akzeptieren. Am 17. Juni bildeten sich zu Beginn der Frühschicht Gruppen von Arbeitern, die darüber diskutierten, ob man sich dem Streik der Berliner Bauarbeiter anschließen solle. Noch waren im „Roten Halle“ gewerkschaftliche Traditionen lebendig. Kein „westlicher Provokateur“ musste den Arbeitern erklären, was ein Generalstreik ist. Gegen 10 Uhr formierte sich in Ammendorf ein Demonstrationszug von etwa 2000 streikenden Arbeitern, darunter etwa 80 Prozent der SED-Mitglieder der LOWA. Schon kurz darauf reagierte die Staatsmacht. Der Kommissarische Chef der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei (BDVP), Zaspel, berichtet: „Wir beschlossen einen Einsatz der Reserve der BDVP, ca. 200 Mann, auf der Strasse Ammendorf-Halle, um in der Nähe der Gaststätte Rosengarten diese illegale Demonstration zu zerschlagen ... Später erhielt ich die telefonische Mitteilung von Oberst Rodjonow ..., dass die Volkspolizei gegen die Demonstranten nicht in Erscheinung treten soll und sich zurückhalten.“1 Die geplante gewaltsame Zerschlagung der Demonstration kam zunächst durch den Einspruch des sowjetischen Kommandanten nicht zustande. Auch am Objekt der Kasernierten Volkspolizei (KVP) in der Damaschkestraße konnten die Demonstranten ungehindert vorbeiziehen, da die Polizisten keinen Befehl zum Eingreifen hatten. In einem Polizeibericht hieß es später: „Immer mehr nahm die Demonstration provokatorischen Charakter an, indem sie angebrachte Sichtwerbungen zerstörten, in HO- und Konsumgeschäften eindrangen und tätliche Angriffe auf Partei- und Staatsfunktionäre verübten.“2 Während sich die Vertreter der Staatsmacht durch den Protestzug tausender Arbeiter bedroht sahen, empfanden die Demonstranten die Aktionen als Befreiung. Die Menschen lachten und jubelten, wenn Stalinbilder und SED-Akten auf die Straße flogen. Ein Zeitzeuge, der damals 9 Jahre alt war, erinnert sich: „Aus Richtung Marx-Engels-Platz (Steintor) kamen tausende von Arbeitern heranmarschiert. Am Reileck angekommen haben einige das ca. 6-8 m hohe Stalinbildnis abgesägt. Unter tosendem Jubel krachte das Bildnis mitten auf den Platz und tausende Füße stampften darüber. Meine Mutter drückte mich fest an sich und Freudentränen rannen wie ein Wasserfall über ihre Wangen. Welch eine Befreiung!“ (Aus einem Brief an Prof. Manfred Hagen, Göttingen. In der Ortsangabe irrt der Zeitzeuge: Das Stalinbildnis befand sich am Stadtpark an der heutigen Magdeburger Straße)

Der 17. Juni - ein Tag der Gewalt?

"Um 16 Uhr wurde der Ausnahmezustand verhängt. Eine Stunde später postierten sich zwei sowjetische Panzer auf dem Markt."
„Die Stimmung war eine Mischung aus Freude und Besorgnis“, erinnert sich eine Zeitzeugin. Bei der Besetzung der SED-Bezirksleitung und des Rates des Bezirkes wurde das Bewachungspersonal entwaffnet. Dabei kam es zu Rangeleien. Die große Mehrheit der Demonstranten aber war friedlich. Die den Polizisten abgenommenen Waffen wurden zerstört bzw. in die Kanalisation geworfen. Um 14.15 Uhr erteilte der Chef der BDVP einen allgemeinen Schießbefehl. Schwerverletzte und Tote gab es, als Polizeikräfte in die Menge schossen. Kein Polizist oder Vertreter der Staatsmacht starb, aber acht Demonstranten bzw. Unbeteiligte verloren ihr Leben. Es gab auch Polizisten, die versuchten, Menschenleben zu bewahren. So rückte die KVP an der Untersuchungshaftanstalt mit leeren Magazinen an. Zahlreiche Einsatzkräfte weigerten sich, auf Demonstranten zu schießen, warfen die Waffen fort oder ließen sich widerstandslos entwaffnen. Einige wurden dafür nach dem 17. Juni bestraft. Um 16 Uhr wurde der Ausnahmezustand verhängt. Eine Stunde später postierten sich zwei sowjetische Panzer auf dem Markt. Dennoch fand die für 18 Uhr anberaumte Kundgebung auf dem Hallmarkt statt: „Trotz des inzwischen verkündeten Ausnahmezustandes konnte diese Kundgebung von den Faschisten auf dem Hallmarkt noch durchgeführt werden, da ... ein Eingreifen der VP-KVP und auch der sowjetischen Soldaten noch nicht für ratsam erachtet wurde, da zu diesem Zeitpunkt noch zu schwache Kräfte in Halle anwesend seien“, konstatierte der Polizeibericht.6 Auf der Kundgebung wurden noch einmal die Forderungen des Streikkomitees bekräftigt: Freie Wahlen, 40%ige Senkung der HO-Preise, Rücktritt der Regierung. Für den 18. Juni wurde zum Generalstreik aufgerufen. Die Kundgebung endete mit dem gemeinsamen Singen des Deutschlandliedes. Danach versuchten Panzer, die Menschenmenge vom Platz zu vertreiben. Ein Teil der Demonstranten zog noch einmal in einem großen Demonstrationszug über Thälmannplatz, Steintor, Reileck zum Robert-Franz-Ring. An der dortigen Bezirksverwaltung des Staatssicherheitsdienstes wurde auf die Demonstranten geschossen. Ein junger Arbeiter starb. In Panik löste sich der Demonstrationszug auf. Ab 21 Uhr wurde jeder festgenommen, der noch auf der Straße war. Gegen die Menschen auf dem Markt gingen Polizeikräfte mit Bajonetten und Gewehrkolben vor. Es kam zu Massenverhaftungen. Von den 464 im Bezirk Halle befreiten Häftlingen waren eine Woche später 430 wieder in Haft.

Bilanz der Gewalt:

In der Stadt Halle gab es am 17./ 18. Juni 1953:
15 Leichtverletzte, davon 7 Vertreter der Staatsmacht
6 mittelschwer Verletzte, davon 3 Vertreter der Staatsmacht,
22 Schwerverletzte, davon 6 Vertreter der Staatsmacht,
8 Tote (Aufständische und Unbeteiligte),
davon am Nachmittag 5 Tote am Zuchthaus „Roter Ochse“,
gegen 19.15 Uhr 1 Toter an der SED-Stadtleitung am Thälmannplatz und
20.15 Uhr 1 Toter am Robert-Franz-Ring.
Am 18. Juni wurde eine Frau auf dem Markt erschossen.
Nach dem 17. Juni erschienen in der SED-Presse Berichte über angebliche „verbrecherische“ Ausschreitungen, die belegen sollten, dass am 17. Juni „faschistische Elemente“ am Werk waren. Besonders eine Person stand im Mittelpunkt der Berichterstattung: die angebliche „Rädelsführerin der Revolte“ Erna Dorn.