Hufelandstraße 32


(ehemals Parkstraße)

Hier wohnte Richard Laqueur

Richard Albrecht Laqueur wurde am 27.3.1881 in Straßburg im Elsass geboren.
Hier hatte sein Vater Ludwig Laqueur (*1839 - 1909), Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, seit 1872 eine Professur für Augenheilkunde inne. Ludwig Laqueur und seine Vorfahren stammten ursprünglich aus Festenberg in Schlesien, seine Frau Marie Bamberger (*1851–1936) war Tochter eines Politikers und Bankiers in Mainz. Beide kamen aus jüdischen Familien, lösten sich jedoch vom jüdischen Glauben und hatten zusammen fünf Kinder.

Richard, ihr jüngster Sohn, besuchte das protestantische Gymnasium und nahm an der Universität Straßburg ein Studium der Klassischen Philologie auf. Hier promovierte er auch und arbeitete als Assistent am philologischen Seminar. Nach einer zweijährigen Studienreise nach Frankreich, Italien, Griechenland sowie in die Türkei habilitierte er sich 1907 an der Universität Göttingen. Nach einem Jahr mit Lehrauftrag in Kiel wurde er 1909 in seiner Geburtsstadt Straßburg als Professor für Alte Geschichte berufen.

Hier heiratete er am 27.12.1909 Magda Schaeffer (*26.5.1880 in Metz/Frankreich), mit der er zwei Kinder bekam, Maja (*1910) und Gert Ludwig (*1912).
In Straßburg blieb die Familie bis 1912. Dann übernahm Laqueur eine Professur an der Universität Gießen und war dort 18 Jahre lang bis 1930 tätig. In Gießen hatte er von 1922 bis 1930 auch den Vorsitz der hessischen Prüfungsbehörde für das höhere Lehramt inne und bekleidete 1923/24 das Rektorat. In die Zeit der Professur in Gießen fiel auch der Erste Weltkrieg. Richard Laqueur diente von 1914 bis Januar 1919 im Militär und wurde mit dem Eisernen Kreuz 1. und 2. Klasse ausgezeichnet.

1930 nahm Laqueur eine Professur in Tübingen an, wechselte von hier aber bereits zum 1.10.1932 an die Universität Halle-Wittenberg. Seine Frau und er zogen in eine Wohnung im Robert-Franz-Ring 13.

Richard Laqueur war zu dieser Zeit ein über die Grenzen Deutschlands hinaus renommierter Althistoriker.
Er verfügte über ein breites Forschungsfeld von der klassischen Zeit Griechenlands bis zur Spätantike und wusste die Studenten zu begeistern. Doch aus dem hoch geschätzten Wissenschaftler wurde innerhalb von nur drei Jahren ein Ausgestoßener. Nach dem Verständnis der Nationalsozialisten galt er aufgrund seiner Abstammung als Jude, obwohl er christlichen Glaubens war. Als solcher wurde Richard Laqueur gemäß § 3 Berufsbeamtengesetz vom 7. April 1933 nur deshalb nicht entlassen, weil ihn die gesetzlichen Ausnahmeregelungen schützten: Vereidigung als Beamter vor dem 1. August 1914 und Teilnahme als Frontkämpfer am 1. Weltkrieg. Damit konnte Laqueur zunächst Forschung und Lehre wie gewohnt fortsetzen.

Das änderte sich mit den Nürnberger „Rassengesetzen“ vom 15. September 1935, die die Ausnahmeklauseln außer Kraft setzten. Der Rektor der Universität Halle bemühte sich zwar beim Reichserziehungsministerium für Laqueur und den ebenfalls betroffenen Klassischen Philologen Paul Friedländer, die Entpflichtung vom 1. November 1935 bis zum 1. April 1936 zu verschieben, doch die Antwort war abschlägig. Die Lehrbefugnis wurde Laqueur entzogen und der Professor in den Zwangsruhestand versetzt.

Den Lebensunterhalt bestritt die Familie nun aus einem Ruhegehalt, das zunächst weiter gezahlt wurde. Gerade erst hatte die Familie ein Haus gekauft, eine Doppelhaushälfte außerhalb der Stadt Halle, in der Dölauer Hufelandstraße 32 (damals Parkstraße), wo das Ehepaar ab 1935 wohnte. Formal gehörte das Haus Magda Laqueur, die nichtjüdischer Abstammung war und zu ihrem Mann hielt.

Die beiden Kinder der Laqueurs, Maja und Gert Ludwig, wurden nach den Nürnberger Gesetzen als „Mischlinge 1. Grades“ eingestuft – damals häufig als „Halbjuden“ bezeichnet.
Über den Werdegang der Tochter Maja ist wenig bekannt. Bei Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 war sie 23 Jahre alt. Sie war unverheiratet und lebte daher vermutlich bei ihren Eltern, sie soll als Kindergärtnerin tätig gewesen sein. Als „Halbjüdin“, die nicht zur Jüdischen Gemeinde gehörte, betrafen sie viele, aber nicht alle Einschränkungen, unter denen als „Volljuden“ eingestufte Menschen litten. So musste sie ab September 1941 nicht den gelben Stern tragen und wurde auch nicht deportiert, obwohl bei der Wannseekonferenz 1942 die Deportation von Kindern aus „Mischehen“ bereits diskutiert worden war. Auch wurden weibliche „Halbjuden“ seltener zur Zwangsarbeit herangezogen. Für eine Heirat mit einem nichtjüdischen Mann hätte Maja eine Genehmigung einholen müssen, eine solche wurde aber fast nie erteilt – defacto ein Heiratsverbot. Sie lebte also ein Leben mit sehr unsicherer Zukunft.

Ihr Bruder Gert Ludwig hatte seit 1930 Medizin in Freiburg/Breisgau studiert, er konnte sein Studium 1936 noch mit der Dissertation beenden, die Approbation wurde ihm bereits verwehrt. Habilitationen waren Juden zu diesem Zeitpunkt auch nicht mehr möglich, nicht mal als Dozent hätte er arbeiten können. Ihm muss klar geworden sein, dass er in Deutschland nicht in seinem Beruf würde arbeiten können.
Gert Ludwig kam daher zu seinen Eltern nach Dölau und bereitete seine Emigration vor. An der Martin-Luther-Universität hinterließ er ein Exemplar seiner Dissertation zum Thema „Tuberkulose und Schwangerschaft“, wo diese als Hochschulschrift bis heute in der Bibliothek zu finden ist.

1937 machte er sich auf den Weg in die Schweiz, wo er als Assistent am Institut für Anatomie in Zürich eine Beschäftigung fand.
Am 8.4.1938 bestieg der 25-jährige Dr. med. Gert Ludwig Laqueur in Antwerpen ein Schiff, das ihn in einer vierwöchigen Reise nach San Francisco brachte. Die Schiffspassage hatte ihm sein Vater bezahlt.
Er hatte jedoch kein dauerhaftes Visum, musste nach sechs Monaten über Mexiko neu einreisen und stellte dabei einen Einbürgerungsantrag.
Ende 1938, als in Deutschland „Mischlingen 1. Grades“ auch generell die Tätigkeit als Arzt untersagt wurde, fand er, der neben Deutsch auch fließend Englisch und Französisch sprach, eine Anstellung als Dozent für Medizin an der Universität Stanford/Kalifornien.
Währenddessen hatten sich die Lebensbedingungen für Richard Laqueur in der Heimat verschlechtert.
Im Zuge der Pogromnacht vom 9.11.1938 soll auf sein Haus geschossen worden sein. Die neben ihm letzte jüdische Familie in Dölau, das Ehepaar Silberberg mit Vater Isidor Lewin, verließ, vermutlich kurz nach einer antisemitischen Bedrohung, den kleinen Ort, in dem Jeder Jeden kannte.

Mit den nun folgenden neuen Bestimmungen zum Ausschluss der Juden von allen kulturellen Veranstaltungen und Einrichtungen verlor Laqueur 1938 auch das Benutzungsrecht der Universitätsbibliothek. Von dort wurde am 15.11.1938 beim Kurator angefragt, ob Laqueur, der eine große Anzahl von Büchern entliehen hatte, Volljude sei. Die Antwort des Kurators lautete: „Prof. Dr. Laqueur ist rassemäßig Volljude. Es ist ihm zu eröffnen, daß seine Besuche der Univ.Bibl. unerwünscht sind.“

Das war ein tiefer Schlag für den Wissenschaftler Laqueur und er beschloss, seinem Sohn in die USA zu folgen. Er wollte dort weiter forschen und betrachtete dies mehr als einen unfreiwilligen Auslandsaufenthalt als eine dauerhafte Emigration.
Das Haus in der Hufelandstraße wurde an einen Freund der Familie verkauft.

Am 14.12.1938 bat Richard Laqueur den Universitätskurator um eine Bescheinigung, dass für ihn als Professor für Alte Geschichte „der Besitz einer Bibliothek und deren Mitnahme unbedingt erforderlich“ sei. Er wolle nur die großen Nachschlagewerke, die wichtigsten Zeitschriften und die Textausgaben der griechischen und römischen Historiker sowie ausgewählte Forschungsliteratur mitnehmen. Alle anderen Bücher sollten bei seiner Frau in Deutschland verbleiben, bis er sich eine neue Existenz aufgebaut habe.
Im Februar 1939 bestieg Richard Laqueur in Bremen die S.S. "Este" Richtung San Francisco, dasselbe Schiff, mit dem ein Jahr zuvor bereits sein Sohn den Antlantik überquert hatte. Frau und Tochter sollten später nachkommen - doch dazu kam es nicht mehr.

Laqueur lebte die erste Zeit bei seinem Sohn in einfachen und sehr beengten Verhältnissen. Seinen Lebensunterhalt verdiente er mit verschiedenen Tätigkeiten, zum Beispiel als Packer in einer Großbuchhandlung. In der knappen Freizeit, vor allem nachts, widmete er sich der Forschung. Er beschäftigte sich mit dem antiken Griechenland und Rom und verfasste ein Werk mit dem Titel „Wissenschaft und Vorstellungskraft“. Dass er von der professionellen Forschung abgeschnitten war, schmerzte ihn sehr. So baute er sein Interessensgebiet aus und beschäftigte sich ebenso mit für ihn neuen Themen, der Theologie, Philosophie und dem Recht.

Sein Sohn Gert Ludwig heiratete 1942 die US-Amerikanerin Mary Alice Murphy. Das Paar bekam drei Töchter und machte Richard Laqueur im Exil zum Großvater.

Magda Laqueur lebte inzwischen mit ihrer Tochter Maja in Hamburg. Ihren Lebensunterhalt bestritt sie vom Erlös des Dölauer Hausverkaufs und dem Ruhegehalt ihres Mannes.
Aufgrund der vom Ministerium nicht genehmigten Abreise in die USA wurde die Zahlung zunächst eingestellt, nach längeren Bemühungen jedoch wieder gewährt. Der Reichserziehungsminister genehmigte Laqueur letztlich „unter Vorbehalt jederzeitigen Widerrufs für die Zeit vom 1. Juni 1939 – 31. Mai 1941“ den Wohnsitz in San Francisco. Später wurde diese Genehmigung noch einmal verlängert bis 31. Mai 1943. Er musste sich regelmäßig bei der zuständigen deutschen Auslandsvertretung melden und dem Kurator der Universität halbjährlich über die Entwicklung seiner Einkommensverhältnisse berichten. Sollten sich diese ändern, hätte das Ruhegeld gekürzt werden können. Neben weiteren Auflagen, die Laqueur zu beachten hatte, wurde vorausgesetzt, dass er „auf die Ausübung einer wissenschaftlichen Lehrtätigkeit im Ausland verzichtet“.

Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg. Erst ein knappes Jahr später, am 30.3.1946, erhielt Magda Laqueur den ersten Brief ihres Mannes seit fünf Jahren. Der internationale Postverkehr war erst seit 1.4.1946 wieder für Privatkorrespondenzen eröffnet worden.

Richard Laqueur wollte unbedingt zurück nach Deutschland kommen und hier seine Forschungsarbeit wieder aufnehmen. Er sah es als seine Pflicht an, sich am Wiederaufbau der deutschen Hochschulen zu beteiligen – und natürlich wollte er wieder forschen und lehren.
Naheliegend erschien ihm die Rückkehr auf seinen Lehrstuhl für Alte Geschichte an der Martin-Luther-Universität.
Die Universität setzte sich mehrfach dafür ein. Doch die politischen Umstände der Nachkriegszeit in der sowjetisch besetzten Zone und deren kommunistischen Funktionäre verhinderten eine Rückkehr nach Halle und später auch an die Humboldt-Universität Berlin.
Über Richard Laqueur wurden von der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung in Ost-Berlin Bedenken verbreitet, die faktisch falsch waren und zu denen er sich nicht äußern konnte.
So warf man ihm den Erhalt des Ruhegeldes während seiner Zeit in den USA vor, der jedoch gemäß praktiziertem Beamtenrecht gezahlt wurde.
Auch sei er Mitglied der SA-Reserve II gewesen. Richtig ist jedoch, dass er zwar Mitglied des Offiziersvereins des ober-elsässischen Feldartillerieregiments Nr. 51 gewesen war, in dem er 1899/1900 seine einjährige Wehrpflicht abgeleistet hatte.

Doch mit der Gleichschaltung aller Militärverbände und -vereine waren diese Verbände von der SA als Dachorganisation übernommen worden. In der SA-Reserve II wurden ab 1933 die über 45 Jahre alten Angehörigen der Verbände und Vereine zusammengefasst. Laqueur war nie in die SA eingetreten.
Ein weiterer Vorwurf lautete, dass Laqueur während der Unruhen 1919 die Aufstellung und Führung einer Kompanie übernommen habe, die aus Gießener Studenten bestand. Tatsächlich hatte Laqueur 1919 die Studentenkompanie auf der Basis eines Aufrufes an die Professoren und Studenten der sozialdemokratischen Reichsregierung und der ebenfalls sozialdemokratischen Landesregierung Hessens gebildet, die dafür Beurlaubung und Anerkennung als Militärzeit ausgesprochen hatten. Es sollte ein Übergreifen der kommunistischen Aufstände in Bayern auf Hessen verhindert werden. Zu einem Einsatz kam es aber nicht, so dass Laqueur die Studentenkompanie wieder auflöste. Dieser Vorgang wurde mit der erneuten Aufstellung einer Studentenkompanie im Jahre 1920 unter Otto Eger, dem Vorgänger Laqueurs im Amt des Gießener Rektors, dem eine verdächtige Nähe zum Kapp-Putsch nachgesagt wurde, vertauscht.

Laqueur wurde das Opfer von Unwissen, Irrtümern und erneuter Ausgrenzung und somit um die verdiente Rehabilitierung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gebracht.

Nach diesen fehlgeschlagenen Versuchen, in Deutschland wieder beruflich Fuß zu fassen, blieb Laqueur zunächst in den USA und war in Washington in der Shakespeare-Bücherei tätig. Seine Frau war zwischenzeitlich zu ihm in die USA gezogen, beide stellten 1949 dort einen Einbürgerungsantrag.
Emeritiert wurde Richard Laqueur 1951 von der Universität Tübingen. Ein Jahr später kehrte er mit seiner Frau nach Deutschland zurück. Von der Universität Hamburg wurde er schließlich 1959 zum Honorarprofessor ernannt. Wenige Tage später, am 25. November 1959, starb er an einem Herzanfall.

Magda Laqueur lebte bis 1967. Ihre Tochter Maja Laqueur hatte nach Kriegsende den Hamburger Reeder Ernst Komrowski geheiratet. Sie starb 1982 in Hamburg.
Gert Laqueur wurde in den USA ein erfolgreicher Mediziner. Nachdem seine Frau 1963 gestorben war, heiratete er 1970 erneut. Der gebürtigen Deutschen Hertha Schmitthenner folgte er am Ende seines Lebens nach München. Hier starb er am 5.5.1986, beigesetzt wurde er in Los Angeles. Seine drei Töchter und deren Nachfahren leben bis heute in den USA.

Quellen

Der Text beruht hinsichtlich Laqueurs beruflichem Werdegang in weiten Teilen auf den Forschungsergebnissen von Isolde Stark.
Erschienen in: Friedemann Stengel (Hg.): Ausgeschlossen. Die 1933-1945 entlassenen Hochschullehrer der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Halle 2016, S. 269 – 276 und hier https://www.catalogus-professorum-halensis.de/politische-verfolgung-ns/verfolgte/laqueur-richard.htm

Universitätsarchiv Halle: UAHW, Rep. 11, PA 155; Rep. 21, Nr. 744; Rep. 4, Nr. 687; Rep. 4, Nr. 688, darin auch Portraitfotos Richard Laqueur

International Biographical Dictionaryof Central European Emigres 1933–1945
Volume II / Part 2: L-Z, The Arts, Sciences, and Literature, Paris 1983