IN MEMORIAM
Siegfried – Siggi – Neher

Geboren 1944 in Mühlhausen
gestorben am 17. September 2021 in Halle

Foto: Evangelischer Kirchenkreis Halle-Saalkreis/Bau

Ein Nachruf von Geralf Pochop

„Im Ergebnis der eingeleiteten Ermittlungsmaßnahmen wurden die Mitglieder der Band ‚Schleimkeim‘ des Pfarrer Neher bekannt. Der Stamm dieser Band besteht aus 5 Mitgliedern
[…]   Durch das überlaute Abspielen der Musik waren Texte im Zusammenhang nicht zu verstehen. Es konnten nur Fetzen wie Nazisau / Rassensau / Arschlöcher verstanden werden. Gez. Oberleutnant Schaller“
(MfS Halle, Aktenvermerk OV „Privileg“ vom 16.6.1983)

Da hat Mielkes Terrortruppe wohl absichtlich oder unabsichtlich etwas durcheinander gebracht. Siegfried Neher war ein liebenswürdiger sanfter Mensch mit Rückgrat. Ohne unseren „Punk-Pfarrer“ wäre Halle (Saale) in den 80er Jahren nicht das gewesen was es für uns war:
In der Christus-Gemeinde gab uns Siegfried Neher ein Rückzugsgebiet. Das war extrem wichtig für uns, hatte die Staatssicherheit – allen voran Erich Mielke – doch 1983 allen Punks den Krieg erklärt und sie in den Rang vogelfreier Staatsfeinde erhoben.
Am 30.4.1983 fand unter Siegfried Nehers Schirmherrschaft das erste DDR-weite Punk-Festival in der halleschen Christuskirche statt. Organisiert von dem bekannten halleschen Künstler Moritz Götze.
Spätestens seit diesem Tag wurde die Christusgemeinde ein wichtiger Anlaufpunkt für die DDR-Punk-Szene.
Auch in den folgenden Jahren fanden hier ungewöhnlich viele Punk-Konzerte und Punk-Festivals statt. Ein Freund von mir, der in die Schule neben der „Christus“ ging, sagte mir mal:
„Ich habe immer dadurch erfahren wann ein Punk-Konzert in der Christus ist, wenn der Zeichenraum in unserer Schule für eine Woche gesperrt wurde. Von dort hatte man den besten Blick auf die Christusgemeinde und die Stasi richtete sich dort vor jedem Konzert wohnlich ein.“

Im Erdgeschoss eröffneten wir 1986 das selbstverwaltete Christus-Café. Dieses fungierte nicht nur als Treffpunkt und Kneipe für die Punkszene sondern führte Wehrdienstverweigerer, Umweltgruppen und Aktivisten der unabhängigen Friedensbewegung mit den Punks zusammen. Die „Christus“ erinnerte manchmal an ein AJZ, ein autonomes Jugendzentrum. Im Keller probten Punkbands. Im Erdgeschoss befand sich das Christus-Café. In der ersten Etage, direkt vor dem Altar, fanden Punk-Konzerte und Festivals statt. Unvergessen bleibt auch der 2. Kirchentag von Unten, welcher 1988 in der Christuskirche stattfand.

Die Staatssicherheit war überhaupt nicht begeistert von dieser Entwicklung und versuchte immer aggressiver gegen die Punks und den Pfarrer vorzugehen. Im OV „Privileg“ konnte ich später lesen, mit welchen Mitteln die Staatssicherheit versuchte unseren „Punk-Pfarrer“ weichzuklopfen.

Umso mehr Respekt habe ich vor dem Mut Siegfried Nehers, der sich nicht unterkriegen ließ. Er hatte immer ein offenes Ohr für unsere Probleme und half uns bei Konfrontationen mit den Staatsorganen wo er nur konnte. 2019 sollte in der Christusgemeinde nochmal ein Punk-Festival stattfinden. Geplant war in diesem Zusammenhang auch ein Treffen der damaligen Protagonisten mit unserem „Punk-Pfarrer“. Leider wurde auf Grund von Corona dieses Treffen auf unbestimmte Zeit verschoben.

Jetzt erreichte mich die Nachricht vom Tod Siegfried Nehers. Es berührt mich aufs Tiefste, dass dieser außergewöhnliche Mensch nun verstorben ist und unser geplantes Treffen nie mehr stattfinden wird.
Sein Tod hinterlässt eine nicht schließbare Lücke.
Ruhe in Frieden!

Geralf Pochop, Jg.1964, ehemaliger Punk in der DDR, 1987 politische Haft, jetzt Bildungsreferent und Autor
„Untergrund war Strategie. Punk in der DDR: Zwischen Rebellion und Repression“, Berlin: Hirnkost-Verlag,2018

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Gerold Hildebrand erinnert: Er war wie viele von uns Bausoldat, Anfang der Siebziger des letzten Jahrhunderts musste er, damals schon ordinierter Pfarrer, seinen waffenlosen „Dienst für das Volk“ leisten. Wir konnten ihn vor 7 Jahren als einen der Prediger für den Gottesdienst beim Bausoldatenkongress 2014 „Friedenszeugnis ohne Gew(a)ehr“ in Wittenberg gewinnen. Seine Predigt vom „unbekannten Bausoldaten“ voller sprachlicher Allegorien ist auf youtube noch zu erleben. Siegfried Neher trug statt einer bunten Stola eine Kette:

https://www.youtube.com/watch?v=VdstEdo6OUk 

(sein Predigtteil findet sich ab Minute 6:15 bis zur ca. 26. Minute)