Schopenhauerstraße 4
(ehemals Roonstraße 3)
Hier wohnte Christa Ruhmann
Am 11. April 1941 kam Christa Ruhmann als achtes Kind von Else Bertram in Halle zur Welt. Die ungelernte Arbeiterin Else Bertram geb. Ruhmann (*1901 in Halle) hatte 1927 den Arbeiter Max Bertram (*1894 in Halle-Kröllwitz) geheiratet. Obwohl die Ehe 1938 geschieden wurde, ist Max Bertram in der Krankenakte von Christa Ruhmann als ihr leiblicher Vater eingetragen.
Else Bertram wohnte zum Zeitpunkt von Christas Geburt an der Adresse Weingärten 21. Hier befand sich das städtische Obdachlosenheim, wohnte eine Hebamme und befand sich eine städtische Krippe für Kinder bis 2 Jahre. Wie und wo Mutter und Tochter dort genau untergekommen waren, ist nicht bekannt.
Am 29. Mai 1941, nur wenige Wochen nach ihrer Geburt, kam Christa Ruhmann in das städtische Kinderheim “Adelheidsruh“ in der Schopenhauerstraße 4 (damals Roonstraße 3), wo sie die ersten zwei Jahre ihres Lebens verbrachte.
Die Geschwister von Christa Ruhmann befanden sich ebenfalls alle in Fürsorgeerziehung – eines in einem Kinderheim in Halle, die sechs anderen in Langensalza.
Im August 1943 wurde durch die Stadt Halle die Verlegung Christa Ruhmanns in eine Landesheilanstalt in die Wege geleitet. Der hallesche Amtsarzt erstellte hierzu ein ärztliches Zeugnis, in dem es heißt: „Blieb von Anfang an in geistiger Entwicklung hinter Altersgenossen zurück. Beschäftigt sich weder mit anderen Kindern noch mit Spielzeug, spricht noch nicht, stößt nur unartikulierte Laute aus, zeitweilig Wutanfälle. Steht und läuft noch nicht“ und „näßt ständig ein.“ Er bescheinigte, dass Christa Ruhmann in einem Kinderheim „untragbar“ und nur „in sehr beschränktem Umfang“ bildungsfähig sei.
Dem Antrag der Stadt auf Unterbringung des Kindes in einer Landesheilanstalt wurde durch den Oberpräsidenten der Provinz Sachsen entsprochen und die zweijährige Christa Ruhmann am 15.10.1943 in die Landesheilanstalt Uchtspringe in der Altmark eingewiesen. Hier lautete die Diagnose: „Angeborener Schwachsinn schweren Grades“, was das Todesurteil des Kindes war. Bereits einen halben Monat nach ihrer Ankunft in Uchtspringe wurde Christa Ruhmann in das Gebäude 20 der Anstalt verlegt. Hier befand sich seit Juni 1941 eine von deutschlandweit mindestens 31 sogenannten Kinderfachabteilungen. Sie waren direkt der Kanzlei des Führers unterstellt. Ziel dieser Einrichtungen war es, Kinder und Jugendliche durch überdosierte Medikamente, bewussten Nahrungsentzug und Vernachlässigung zu ermorden.
Im Januar 1944 fragte die Stadt Halle bei der Anstalt nach, „ob es sich im vorliegenden Falle um eine Erkrankung im Sinne der RVO. [gemeint ist die Reichsversicherungsordnung] handelt und der Pflegling ärztliche Behandlung erhält.“ Die Frage zielte darauf ab, ob die Kosten, die der Stadt durch den Aufenthalt der Patientin in Uchtspringe entstanden, von der Krankenkasse zu übernehmen sind. Die Antwort lautete: „Bei dem Kind Christa Ruhmann geb. 11.4.41 handelt es sich um ein völlig idiotisches Kind, das ein reiner Pflegefall darstellt. Es handelt sich nicht um eine Erkrankung in Sinne der RVO.“ Somit war also die Stadt in der Zahlungspflicht.
Einen halben Monat später, am 1. Februar 1944, starb Christa Ruhmann. Zu diesem Zeitpunkt war sie zwei Jahre und neun Monate alt. Die offizielle Todesursache lautete „Bronchopneumonie und Kreislaufschwäche“.
Wahrscheinlich ist, dass Christa Ruhmann durch das „Luminal-Schema“ ermordet wurde. Dabei wurde Luminal über mehrere Tage drei Mal täglich leicht überdosiert verabreicht. Bei der systematischen Unterernährung der Patienten führte dies in kurzer Zeit zum Tod durch Lungenentzündung (Bronchopneumonie). Paul Nitsche entwickelte diese Methode 1940 in der Heilanstalt Leipzig-Dösen. Sie war insofern unauffällig, als dass Luminal damals ein gängiges Beruhigungsmittel und die offizielle Todesursache der Patienten eine natürliche war.
Der Mord an Christa Ruhmann ist in die Phase der „dezentralen Euthanasie“ einzuordnen, die auf die „Aktion T4“ folgte. In diesem Rahmen wurden in mehr als 100 psychiatrischen Einrichtungen, darunter auch Kinderfachabteilungen, Menschen ermordet. Die Zahl der Opfer beträgt etwa 100.000 Personen (wobei die Zahlen zwischen 90.000 und 200.000 Opfern je nach Quelle schwanken).
Die Leitung der Uchtspringer Kinderfachabteilung sowie der Frauenabteilung lag damals bei Dr. Hildegard Wesse. Sie hatte im Dezember 1943 die Nachfolge ihres Ehemannes Dr. Hermann Wesse angetreten, der in den Krieg eingezogenen worden war. Noch bis Juni 1945 hatte die damals hochschwangere Ärztin die Leitung beider Abteilungen inne. Unter Frau Dr. Wesse wurden Kinder - und später auch Frauen - mit dem Betäubungsmittel Luminal z.T. in Kombination mit dem Schmerzmittel Morphium getötet.
Angehörige wurden über den tatsächlichen Zustand der Patienten, über deren „Therapie“ und „Behandlung“ und letztlich auch über deren Tod getäuscht.
Gisela Rebarz (→Gerberstraße/Ecke Bornknechtstraße) und Manfred Hödicke (→Rannische Straße/Ecke Großer Berlin) waren weitere Opfer aus Halle, die in der "Landesheilanstalt" Uchtspringe ermordet worden sind.
Quellen und weiterführende Informationen:
Landesarchiv Sachsen-Anhalt (Landesarchiv Sachsen-Anhalt, C 98 Uchtspringe, Nr. 3932)
Kriemhild Synder: Die Landesheilanstalt Uchtspringe und ihre Verstrickung in nationalsozialistische Verbrechen, in: Psychiatrie des Todes. NS-Zwangssterilisation und „Euthanasie“ im Freistaat Anhalt und in der Provinz Sachsen, Magdeburg, 2001, S. 75-96
https://stgs.sachsen-anhalt.de/fileadmin/Bibliothek/STGS/Bernburg/Psychiatrie_des_Todes_-_Teil_1.pdf
Hallesche Adressbücher
Stadtarchiv Halle (Saale)
Mehr Informationen zur „Euthanasie“ im Nationalsozialismus und zur „T4-Aktion“:
https://gedenkort-t4.eu/wissen/aktion-t4
https://www.t4-denkmal.de/Die-Aktion-T4
Mehr Informationen zur „dezentralen Euthanasie“:
https://www.t4-denkmal.de/Dezentrale-Euthanasie