Mozartstraße 24

 

Hier wohnten
Dr. Paul Marcus, Hertha Marcus geb. Loeb und ihre Tochter Marion Beate Marcus

In den Räumen der heutigen Hausarztpraxis in der Mozartstraße 24 wohnte bis 1938 Familie Marcus.

Paul Marcus war der älteste Sohn von Emma Marcus geb. Gassenheimer (*16.4.1863) und Simon Marcus (*14.6.1861). Die Gassenheimers waren eine große Familie aus Themar in Thüringen, die sich auf die Herstellung und einen weit verzweigten Handel mit Landmaschinen spezialisiert hatte. Simon Marcus war Kaufmann und stieg in das Geschäft der Gassenheimers ein. Mit der Heirat im Jahr 1888 zog Emma zu ihrem Mann Simon Marcus nach Dessau, wo alle drei Söhne des Paares geboren wurden: Paul (*6.2.1891), Siegfried (*3.6.1893) und Erich (*4.3.1896).

Paul Marcus legte 1912 am Herzoglichen Friedrichs-Gymnasium in Dessau das Abitur ab und nahm ein Medizinstudium in Freiburg auf. Von hier wechselte er nach München, wo er - wie sein ebenfalls in München studierender Bruder Siegfried - Mitglied einer jüdischen Studentenverbindung wurde. Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, meldeten sich alle drei Marcus-Brüder freiwillig und zogen als deutsche Soldaten in den Krieg. Entsprechend seiner begonnenen Ausbildung war Paul Marcus als Feldarzt im Einsatz.

Ende 1918 kehrten alle drei Marcus-Brüder aus dem Krieg zurück, doch nicht nach Dessau, sondern nach Halle. Denn hierher waren ihre Eltern in der Zwischenzeit, etwa um 1915, gezogen. Zu diesem Zeitpunkt lebten in Halle bereits drei Geschwister von Emma Marcus: Georg Gassenheimer mit Frau Selma und Tochter Ruth, Minna Frankenberg mit ihrem Mann Nathan (->STOLPERSTEINE Feuerbachstraße 74) sowie Elise Ney (->STOLPERSTEINE Maybachstraße 2).
Emma und Simon Marcus bewohnten mit ihren aus dem Krieg heimgekehrten erwachsenen Söhnen eine große Wohnung mit acht Zimmern und Blick auf den halleschen Bahnhof in der Kirchnerstraße 21.
Paul Marcus beendete nun das Studium, arbeitete 3 Jahre als Assistenzarzt in Halle und Erlangen und legte schließlich 1922 seine Dissertation vor. 1923 ließ er sich als Allgemeinarzt nieder und eröffnete eine Praxis in der Großen Ulrichstraße 37. Ab 1930 befand sich die Praxis in der Nr. 29.

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Anzeige in der Saale-Zeitung, 31.3.1923

1927 heiratete er die aus Neuwied / Kreis Koblenz stammende Hertha Loeb (*13.1.1906). Ihre Eltern Jakob und Rosalie Loeb besaßen dort eine Bürstenfabrik. Hertha hatte ein Lehramtsstudium absolviert, ob sie auch als Lehrerin gearbeitet hat, ist bislang  unbekannt.

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Hochzeit von Hertha und Paul Marcus im September 1927. Von links: Pauls Bruder Siegfried Marcus, Max Loeb (Bruder von Hertha), Rosalie Loeb (Mutter von Hertha), Pauls Bruder Erich Marcus, das Hochzeitspaar Hertha und Paul Marcus, Gertrud Gassenheimer, Emma Marcus (Mutter von Paul Marcus), Josef Gassenheimer (Bruder von Emma Marcus und Mann von Gertrud Gassenheimer), Jakob Loeb (Vater von Hertha Marcus)

Hertha und Paul Marcus gründeten nach der Hochzeit ihren eigenen Hausstand in der Mozartstraße 24. Am 3.11.1930 wurde Tochter Marion Beate geboren.  Im Mai 1936 kam die zweite Tochter, Renate Elisabeth zur Welt. Sie starb mit nur einem Jahr an Plötzlichem Kindstod.
Marion wurde 1937 eingeschult. Die Mädchen der Giebichenstein-Volksschule wurden damals  getrennt von den Jungen in der Großen Brunnenstraße 4 unterrichtet.

Familie Marcus nahm in Halle am Leben der jüdischen Gemeinde teil und annoncierte Familienereignisse in der Zeitung des Synagogenbezirks. Kontakte bestanden zu weiteren jüdischen Familien in Halle. So fanden Rezepte von Hertha Marcus für gefüllten Schokoladenkuchen, Mohrrübentorte und Kreppel gekennzeichnet mit „Frau Dr. Marcus“ Eingang in das Kochbuch von Gertrud Katz (-> Stolperstein Hansering 2), welches diese 1939 mit nach England nahm und das 2024 nach Halle zurückkehrte. Paul Marcus war Mitglied im Verband nationaldeutscher Juden und wie seine Brüder im Jüdischen Frontkämpferbund, alle diese Vereine wurden 1938 verboten.

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Paul Marcus und Tochter Marion 1935

Die berufliche Situation bot Anlass zur Sorge. Im Deutschen Reich waren Anfang 1933 zwischen 6.500 und 9.000 jüdische Ärzte tätig, die meisten als niedergelassene Kassenärzte. Bereits im April 1933 wurde deren Tätigkeit untersagt. Ausnahmeregeln bestanden nur für Ärzte, die im Fronteinsatz gewesen waren, das traf auf Paul Marcus zu.

Im Juli 1938 wurde beschlossen, den dann noch etwa 3.000 tätigen jüdischen Ärzten zum 30. September 1938 die Approbation zu entziehen, was auch für Paul Marcus das Ende der beruflichen Tätigkeit bedeutet hätte. Nur mit Ausnahmegenehmigung konnten jüdische Ärzte danach noch als  „Krankenbehandler“ tätig sein und durften dann nur jüdische Kranke behandeln.
Paul und Hertha Marcus beschlossen, nach Uruguay auszuwandern und erhielten die dafür erforderliche Genehmigung. Für die Ausreise war allerlei vorzubereiten. Ein Führungszeugnis und eine Schuldenfreiheitsbescheinigung musste beschafft, die Einkommenssteuererklärung für das erste Halbjahr 1938 erledigt werden. Paul meldete seine Praxis ab und wurde von der Kassenärztlichen Vereinigung aus dem Arztregister gestrichen.

Hertha versuchte erfolglos, ihren sechs Jahre älteren Bruder Max, der Rechtsanwalt in Neuwied war, und dessen Frau Lilly zum Mitkommen zu bewegen.  Ihre Mutter war bereits 1931 verstorben, ihr Vater kurz zuvor 1937, so dass ihr nur der Bruder geblieben war. Max Loeb und seine Frau Lilly harrten jedoch in Deutschland aus und wurden im Juli 1942 von Köln in das Ghetto Minsk deportiert, später in der Tötungsstätte Maly Trostinec ermordet. 
Paul Marcus` Eltern waren ebenfalls bereits verstorben, Vater Simon starb 1925, Mutter Emma 1932. Beide sind auf dem Friedhof Humboldtstraße begraben. Pauls Brüdern Siegfried und Erich gelang die Flucht in die USA (-> STOLPERSTEINE Kirchnerstraße 17).

Durch die fällige Reichsfluchtsteuer und weitere verpflichtende Abgaben, die sämtlich dazu dienten, jüdischen Bürgern weite Teile ihres Vermögens zu entziehen, war vom Ersparten der Familie bei Abfahrt nicht viel übrig. Dennoch gelang es Paul Marcus, einige medizinische Geräte aus seiner Praxis mit auf die Reise zu nehmen, die ihm den Aufbau einer neuen beruflichen Existenz erleichtern sollten.  Möbelstücke, Teppiche, Bücher und andere Erinnerungsstücke wurden verpackt und als Fracht aufgegeben. Auch der Bechstein-Flügel, den Paul 1927 in Halle bei der Firma Albert Hoffmann gekauft und Hertha zur Hochzeit geschenkt hatte sowie das Auto, ein Opel, gingen mit auf die Reise über den Atlantik.

Der Weg nach Uruguay führte die Familie zunächst in die Schweiz. Aus Basel schrieb Paul Marcus Ende September 1938 noch eine Postkarte an seine Familie in Halle mit guten Wünschen zum jüdischen Neujahrsfest. Im Oktober 1938 bestieg Familie Marcus in Le Havre, Frankreich den Dampfer „Aurigny“ in Richtung Südamerika und erreichte die Hauptstadt Uruguays, Montevideo Anfang November 1938.
Mit an Bord befanden sich zahlreiche weitere Juden aus mehreren europäischen Ländern. Die meisten blieben auf dem Schiff, das weiter nach Buenos Aires, Argentinien fuhr.
Bei ihrer Ankunft in Montevideo musste die Familie feststellen, dass nicht alle Koffer angekommen waren. Für den Opel hatte der Zoll eine dem Neuwert gleichkommende  Einfuhrgebühr angesetzt, so dass das Auto nicht ausgelöst wurde, sondern am Hafen zurückblieb.

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Postkarte mit Abbildung der „Aurigny“. Mit diesem Schiff reiste Familie Marcus nach Uruguay.

In Uruguay ließ die Familie die traumatischen Ereignisse hinter sich und begann unter schwierigen Bedingungen ein neues Leben. Zu diesem Zeitpunkt war Paul Marcus 47 Jahre alt, Hertha Marcus 32, Tochter Beate 8. Sie änderten ihren Nachnamen in Marcos, aus Paul wurde Pablo, aus Marion Beate wurde María Beatriz, für Hertha gab es keine spanische Entsprechung. 
Familie Marcus schätzte die gesellschaftliche Stimmung in ihrem neuen Land derart ein, dass sie es für sicherer befand, die jüdische Identität abzulegen und zum katholischen Glauben der einheimischen Mehrheitsgesellschaft überzutreten.

Zunächst sorgte Hertha Marcus allein für den Lebensunterhalt der Familie, indem sie selbstständig als Übersetzerin für Deutsch, Französisch und Spanisch arbeitete und auch privaten Deutschunterricht anbot.
Marion Beate an der Deutschen Auslandsschule Montevideo anzumelden, schien ihren Eltern keine gute Idee zu sein, denn ein signifikanter Teil der Schulgemeinschaft befürwortete die judenfeindliche Politik im Deutschen Reich. Stattdessen besuchte sie eine Schule, in der auf Französisch unterrichtet wurde. Spanisch lernte sie an den Nachmittagen.
Da die Behörden seine Zeugnisse nicht anerkannten, musste Paul Marcus in Uruguay alle Prüfungen erneut und in Spanisch ablegen, um als Arzt tätig werden zu können. Als er diese Hürde genommen hatte, richtete er einen Raum in seinem Haus als Praxis ein. Paul Marcus starb bereits 1961.

Über die Vergangenheit in Europa und die eigene, jüdische Herkunft sprach die Familie nicht mit ihren Nachkommen. Diese wussten nur, dass die Familie vor dem Krieg in Uruguay Zuflucht gefunden hatte.
Nach dem Tod ihres Mannes reiste Hertha jedes Jahr nach Europa und besuchte ihren Geburtsort Neuwied, wo ihre Eltern begraben sind. Nach ihrem Tod 1994 entdeckten die drei Enkelkinder in Hebräisch verfasste Bücher und Dokumente im Haus der Großeltern und begannen, die eigene Familiengeschichte zu erforschen.
2009 gelang es einer ihrer Töchter, Marion Beate zu einer Reise nach Halle zu bewegen, ihrer Heimatstadt, die sie 70 Jahre zuvor verlassen hatte. Marion Beate Marcus starb 2017.

Etwa 10.000 europäische Juden fanden zwischen 1933 und 1945 Zuflucht in Uruguay, dem Land mit rund 2 Millionen Einwohnern am Rio de la Plata. Dort leben bis heute Nachkommen von Hertha, Paul und Marion Beate Marcus.

Quellen und weiterführende Informationen:

Nachfahren von Paul Marcus und Siegfried Marcus in Uruguay und den USA, insbesondere Ana Caviglia

Stadtarchiv Halle, insbesondere Nachlass Gudrun Goeseke

Zur Geschichte der Familie Gassenheimer viele weitere Informationen unter www.judeninthemar.org/de
Ein Projekt der kanadischen Forscherin Sharon Meen

Universitätsbibliothek Halle: Dissertation von Dr. Paul Marcus: Über Anämia pseudoleucämica infantum. Halle 1922 sowie Sammlung Historischer Zeitungen

Zeitschrift „Der Jüdische Student, Heft 8 Jg.  1912, Heft 10 Jg. 1913. Abgerufen über die Judaica-Sammlung der Goethe-Universität Frankfurt a. Main

Arolsen Archives, Ancestry Datenbank, Centrum Judaicum Berlin

Jüdische Auswanderung nach Südamerika, hrsg. v. Hilfsverein der Juden in Deutschland, Berlin, Neuausgabe 1939, S. 86ff. Aus der Sammlung des Leo Baeck Institute - New York | Berlin, digitalisiert von der Universitätsbibliothek JCS Frankfurt am Main in Kooperation mit dem Center for Jewish History, NY: https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/rpage/4921038

Zu Max und Lilly Loeb: Stolpersteine in Neuwied