Kirchnerstraße 17

(ehemals Kirchnerstraße 21)

Hier wohnten
Dr. Siegfried Marcus, seine Frau Emma Marcus und die drei Söhne Erich, Dieter und Peter sowie Siegfrieds Bruder Erich Marcus

Am Durchgang von der Kirchnerstraße zum halleschen Hauptbahnhof stand einst linkerhand das Wohnhaus mit der Nummer 21. In der 2. Etage bezogen Emma und Simon Marcus um 1915 eine großzügige Wohnung mit acht Zimmern und einem Balkon. Von dort konnte man direkt auf den damaligen Thielenplatz blicken. Heute befindet sich an dieser Stelle der Busbahnhof.

Als Emma und Simon Marcus von Dessau nach Halle zogen, lebten bereits drei Geschwister von Emma Marcus in der Saalestadt: Georg Gassenheimer mit Frau Selma und Tochter Ruth, Minna Frankenberg mit ihrem Mann Nathan (->STOLPERSTEINE Feuerbachstraße 74) sowie Elise Ney (->STOLPERSTEINE Maybachstraße 2).

Emma Marcus (*1864) war eine geborene Gassenheimer. Die große Familie der Gassenheimers stammte aus Themar in Thüringen und hatte sich auf die Fabrikation und den Vertrieb von Landmaschinen spezialisiert. Simon Marcus (*1861) war Kaufmann und in das Geschäft eingestiegen.

Das Ehepaar hatte drei Söhne: Paul (*6.2.1891), Siegfried (*3.6.1893) und Erich (*4.3.1896). Alle drei waren noch in Dessau geboren worden und hatten dort auch die Schule besucht, das Herzogliche Friedrichs-Gymnasium.
Paul begann ein Studium in München, Siegfried folgte seinem Bruder und entschied sich für das Studium der Rechtswissenschaften. Beide traten dort einer jüdischen Studentenverbindung bei. Siegfried zog es dann an die Universitäten in Freiburg und weiter nach Halle. Erich sollte Kaufmann werden und in das Gassenheimer-Geschäft einsteigen.

1914 brach der Erste Weltkrieg aus. Siegfried Marcus studierte zunächst weiter, legte im Sommer 1916 in Naumburg die erste juristische Prüfung ab und wurde zum Referendar ernannt. Ab September 1916 diente er im Heer in juristischer Funktion, erst bei einem Standgericht, später beim Kriegsministerium. Alle drei Marcus-Brüder hatten sich freiwillig gemeldet, um für Deutschland in den Krieg zu ziehen.
Siegfried Marcus verheimlichte bei der Musterung sogar sein Glasauge, das er seit dem Kindesalter wegen eines Splitters im Auge trug. Paul Marcus diente als Feldarzt. Erich Marcus wurde bei einem Angriff verschüttet, erlitt eine Gasvergiftung und wurde längere Zeit in einem belgischen Lazarett behandelt. Er erhielt das Verwundetenabzeichen und das Ehrenkreuz für Frontkämpfer.

Kirchnerstr21_Erichvornlinks1918
Erich Marcus (links außen sitzend) im Lazarett in Belgien

Alle drei Marcus-Brüder kehrten Ende 1918 aus dem Krieg nach Halle zurück und wohnten mit ihren Eltern in der Kirchnerstraße. Siegfried nahm seinen Vorbereitungsdienst am Amtsgericht Schkeuditz auf, wurde Referendar am Landgericht Halle und reichte 1919 seine Dissertation an der Universität Greifswald ein.  Er war Mitglied im „Barmherzigen Brüderverein Halle“, im liberalen „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ und, wie seine Brüder, im „Jüdischen Frontkämpferbund des Bezirks Halle“. Alle diese Vereine wurden 1938/39 verboten.

1923 eröffnete Siegfried Marcus eine eigene Rechtsanwaltskanzlei. Zunächst war er damit in der Großen Ulrichstraße 57 ansässig, zog aber nach einem Jahr in Kanzleiräume Am Steintor 18. In dieser Zeit lernte er Martha Emma Becker kennen. Emmi, wie sie meist genannt wurde, stammte aus einer Arbeiterfamilie. Der Vater war von Beruf Kutscher, aber aus dem Krieg nicht zurückgekommen. Emma hatte vier jüngere Geschwister: Martha, Lisa, Friedel und Walter. Ihre Mutter arbeitete bei einem Tischler in der Barfüßer Straße. Dort wurden Särge hergestellt, die Emmas Mutter mit Stoff auskleidete. Schon im Kindesalter hatte Emma bei dieser Tätigkeit mitgeholfen, begann später ebenfalls dort zu arbeiten, bis sie in einer Wurstfabrik anfing.
Die Beckers waren Protestanten, aber nicht besonders religiös, ebenso wie Siegfried Marcus, der zwar aus einer jüdischen Familie kam, für den die Religion im Alltag aber eher keine Rolle spielte.

Emmi und Siegfried verliebten sich ineinander. Doch Siegfrieds Mutter, der Vater verstarb bereits 1925, war entschieden gegen die Ehe mit der jungen Frau aus einfachen Verhältnissen, die ausgerechnet denselben Vornamen trug wie sie selbst. Emma Marcus, die ihren Söhnen Studium und berufliche Karriere ermöglicht hatte, erhoffte sich vermutlich eine standesgemäße Partie für ihren Sohn. Doch Siegfried hielt zu Emmi und versprach ihr die Heirat zu einem späteren Zeitpunkt.
Dann kamen die ersten beiden Söhne zur Welt: Erich (*1.6.1927) und Dieter (*21.5.1932). Beide lebten mit der Mutter in der Hedwigstraße 1 (heute Johann-Andreas-Segner-Straße), um die Ecke von Siegfrieds Kanzlei. Siegfried Marcus kam oft zu Besuch und unterstützte, wo es möglich war, wohnte aber bei seiner Mutter in der Kirchnerstraße. Hier lebten bis zur Hochzeit mit Hertha Loeb im Jahr 1927 auch noch sein Bruder Paul und sein Bruder Erich. Als dieser 1931 Karola Mendel (*12.8.1907-2002) heiratete, zog auch er aus der elterlichen Wohnung aus und gründete mit seiner Frau einen eigenen Hausstand in der Brucknerstraße 11. Erich arbeitete als Vertreter für Land- und Haushaltsmaschinen. Mit dem Auto fuhr er übers Land und brachte Geräte aus der Gassenheimer-Herstellung und anderer Firmen, wie „Miele“, an die ländliche Kundschaft.

Kirchnerstr21_Erich und Lola
Erich Marcus und seine Frau Karola Marcus, geb. Mendel um 1931

Emma Marcus nahm, trotz dass sie die Verbindung ihres Sohnes ablehnte, durchaus Anteil am Aufwachsen ihrer Enkel. Sie brachte deren Namen in Erfahrung und beobachtete Mutter und Kinder mindestens einmal von einem Café aus, das Emma Becker mit Kinderwagen regelmäßig passierte.
1932 starb Emma Marcus mit 70 Jahren. Siegfried hielt sein Wort und kurz darauf wurde geheiratet. Die vierköpfige Familie zog in die elterliche Wohnung in der Kirchnerstraße. 1936 kam der dritte Sohn, Peter auf die Welt.

Kirchnerstr21_Emma1918
Emma Marcus 1918
Kirchnerstr21_Hallische Nachrichten 17.10.1932
Todesanzeige, Hallische Nachrichten 17.10.1932

Siegfried Marcus hatte das Buch „Mein Kampf“ gelesen und befand es für sicherer, seine Söhne weder beschneiden zu lassen, noch jüdisch zu erziehen, obwohl seine Frau bereit gewesen war, zum jüdischen Glauben überzutreten.

Als im Januar 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen, war eine ihrer ersten Maßnahmen, Juden aus bestimmten Ämtern und Berufen zu verdrängen. Bereits im April 1933 wurde ein Gesetz verabschiedet, das jüdischen Rechtsanwälten die Zulassung entzog. Für Alt-Anwälte mit Zulassung bis 1914 und Weltkriegsteilnehmer im Fronteinsatz sah das Gesetz allerdings eine Ausnahme vor, was auf Siegfried Marcus zutraf. Zu Beginn des Jahres 1933 waren 13 der insgesamt 104 Rechtsanwälte und Notare in Halle jüdischer Herkunft. Im Dezember waren es nur noch fünf. Ihre Namen und Adressen standen an erster Stelle des Flugblatts, mit dem im April 1933 in Halle zum Boykott jüdischer Rechtsanwälte, Ärzte und Geschäftsleute aufgerufen wurde. Jüdischen Anwälten war in Halle der Aufenthalt im Anwaltszimmer, wo jeder einen persönlichen Schrank hatte, untersagt. Sie mussten ihre Robe von nun an in der Aktentasche mitbringen.

Siegfried Marcus konnte zunächst weiter als Anwalt tätig sein, doch die durch die Nationalsozialisten bereits getroffenen und noch angekündigten Maßnahmen gegen alle Juden wurden immer massiver und trafen 1938 die Familie Marcus direkt:

Am 25. April 1938 wurde Erich Marcus, Siegfrieds Bruder, verhaftet und in das KZ Buchenwald gebracht. Beim Transport traf er auf seinen Cousin Hans Ney und weitere Hallenser wie Leopold Nussbaum und Julius Pfifferling, die im gleichen Block untergebracht wurden. Die Verhaftung erfolgte im Zusammenhang mit der „Aktion Arbeitsscheu Reich“, in der 1938 in mehreren Wellen etwa 10.000 Männer in Konzentrationslager verbracht wurden, darunter überdurchschnittlich viele Juden. Vorgeblich sollte durch die vorbeugende Verhaftung von Menschen mit Vorstrafen und „asozialem“ Verhalten die Kriminalität gesenkt werden. Worum es im Fall von Erich Marcus und vielen anderen augenscheinlich wirklich ging, war der Versuch, die Auswanderung der Personen zu erreichen, um sich dadurch deren Vermögens bemächtigen zu können.
Erich Marcus wurde am 21.5.1938 entlassen mit der mündlichen Auflage, schnell das Land zu verlassen. Er folgte dem und beantragte für sich und seine Frau ein Visum für die USA. Zur Zahlung der Reichsfluchtsteuer in Höhe von 20.000 Reichsmark (RM) und anderer Abgaben, die dazu führten, dass die meisten Ausreisenden nahezu mittellos das Land verließen, liquidierte er seine seit 1923 bestehende Firma „Erich Marcus, Maschinen für Land- und Hauswirtschaft“. Etwa zeitgleich wurden Erich und seine Frau Karola aus ihrer Wohnung in der Brucknerstraße 11 ausgewiesen und fanden Unterschlupf in der Landwehrstraße 23 bei Karolas Familie.

Der ältere Bruder Siegfrieds und Erichs, der Arzt Paul Marcus (-> STOLPERSTEIN Mozartstraße 24), bereitete sich in dieser Zeit gerade auf seine Auswanderung nach Uruguay vor. Er verließ Halle mit Frau und Kind im September 1938.

Kirchnerstr21_Familie um 1936
Um 1936 in der Kirchnerstraße. Von links: Emmas Schwägerin Dorchen, Erich, Siegfried, Emma und Dieter

Nun wurde angekündigt, dass die Ausnahmeregeln für Frontkämpfer unter den jüdischen Rechtsanwälten im September 1938 gestrichen werden sollten und nur noch einzelne „jüdische Konsulenten“, so die neue Bezeichnung, zugelassen würden. Diese durften einzig und allein jüdische Bürger vertreten.

Ein weiteres Ereignis führte schließlich zur Flucht von Siegfried Marcus aus Deutschland. Im Spätsommer 1938 war er ins Polizeigebäude am Hallmarkt vorgeladen worden. Zum Verhör nahm er das Eiserne Kreuz mit, das er für seinen Dienst als Frontkämpfer erhalten und mit dem er seine Loyalität zu Deutschland nachweisen wollte. Dort erfuhr er, dass ihm das Angebot einer Zigarre an einen Mitspieler beim Skat in der Kneipe als Bestechung eines Justizbeamten ausgelegt werde. Der Mitspieler war Gerichtsvollzieher. Das Eiserne Kreuz half Siegfried Marcus nicht, es wurde ihm aus der Hand geschlagen und er wurde in eine Zelle gebracht. Siegfried Marcus vermutete, dass der eigentliche Grund seiner Verhaftung ein Prozess gewesen sei, den er für einen enteigneten jüdischen Unternehmer geführt hatte.
Bis Emma Marcus den Aufenthaltsort ihres Mannes herausgefunden hatte, vergingen einige Tage. Dann konnte sie ihn schließlich im Polizeipräsidium am Hallmarkt besuchen.
Was dann passierte, wurde in der Familie wie folgt weitergegeben:
Ihr Mann bat sie, nach Berlin zu fahren und einen Freund aus der gemeinsamen Zeit beim Militär aufzusuchen, der inzwischen eine höhere Position erlangt hatte und Mitglied der NSDAP war.
Emma Marcus fand den Genannten in Berlin. Er sorgte für die Freilassung seines Freundes, warnte aber: Siegfried werde bereits zu Hause sein, wenn sie wieder in Halle ankäme. Er solle aber sofort fliehen, da man bald merken werde, dass die Freilassung ein Irrtum gewesen sei. Und so geschah es. Emma Marcus fand bei Heimkehr ihren Mann vor. Sie packten eilig einen Koffer und verließen die Wohnung. Den Gang zur Bank, um etwas Geld abzuheben, getrauten sie sich nicht mehr. Tante Friedel, Emmas Schwester, blieb bei den Söhnen Erich (11), Dieter (6) und Peter (2), die den Eltern vom Fenster hinterherschauten, bis sie im Bahnhof verschwanden.
Emma begleitete ihren Mann bis nach Rotterdam und kehrte dann zurück zu den Kindern.
Siegfried Marcus bezahlte die Schiffspassage nach New York und, weil er nur ein Besuchsvisum hatte, auch für den Rückweg, mit der eigentlichen Absicht, vorerst in den USA zu bleiben.
 
In der darauffolgenden Zeit wurde Emma Marcus mehrfach von der Gestapo aufgesucht sowie vorgeladen und zum Verbleib ihres Mannes befragt. Sie antwortete wahrheitsgemäß, dass sie nicht wisse, wann er zurückkommen werde. In diesen Gesprächen wurde sie vehement bedrängt, sich von ihrem jüdischen Mann scheiden zu lassen. Sie lehnte wiederholt ab und stand zu ihrem Mann, trotz der Konsequenzen für sie und ihre Kinder.

Kirchnerstr21_EmmaErichDieter_um1936
Emma mit Dieter und Peter um 1940
Kirchnerstr21_EmmaSoehne_um1941
Emma mit Erich, Dieter und Peter um 1941

Emma Marcus stand nun mit drei kleinen Kindern mehr oder weniger mittellos da. Ihre Geschwister, zu denen sie engen Kontakt hatte, versuchten zu helfen, besaßen aber selbst kaum Geld. Ohne Scheidung erhielt Emma Marcus kein Arbeitsbuch und ohne Arbeitsbuch erhielt sie keine Arbeit. Zwar wurde das Vermögen ihres Mannes zunächst an sie übertragen, dann aber für „an das Reich verfallen“ erklärt. Aus den noch vorhandenen Wertpapieren wurden ihr von der Bank nach hartem Kampf etwa quartalsweise Beträge zwischen 250 und 350 RM ausgezahlt. Allerdings entfielen schon monatlich 135 RM für Miete und 40 RM für Schulgeld, was für jüdische "Mischlingskinder" doppelt so hoch war wie für nichtjüdische Kinder. Dreimal wurde ihr die Auszahlung ganz verweigert, weil sie nicht auf die Scheidung einging. Aus der Not begann Emma Marcus drei Zimmer ihrer großen Wohnung in der Kirchnerstraße zu vermieten, wobei ihr auferlegt wurde, nur Ausländer aufzunehmen. Bei ihr wohnten u.a. ein schwedischer Schauspieler des Stadttheaters und ein Tscheche, der in Halle als Kellner arbeitete.
Die Familie hatte so wenig Geld, dass sie oft nicht einmal die ihnen zustehenden Lebensmittelmarken, die weniger waren, als die der „arischen“ Bevölkerung, einlösen konnten. Der mittlere Sohn Dieter Marcus erinnert sich an Hunger als ständiger Begleiter dieser Jahre.
Dieter schlüpfte häufig unter der Schranke hindurch auf die Bahnsteige des Hauptbahnhofes, die damals eigentlich nur mit Bahnsteigkarte betreten werden durften. Dort nahm er für Reisende, die während eines Halts den wartenden Zug nicht verlassen wollten, kleinere Aufträge an, holte eine Zeitung, ein Getränk oder trug auch mal einen Koffer. Dabei wurde er argwöhnisch von den professionellen Kofferträgern beäugt. Oft durfte er das Wechselgeld behalten und brachte es stolz heim zur Mutter, die ihn dafür lobte, zum Familieneinkommen so tüchtig beizutragen. Während Dieter viele Nachmittage auf dem Bahnhof verbrachte, hat er auch Deportationszüge gesehen, die Halle durchfuhren oder hier gar hielten. Die Leute hätten oft etwas herausgerufen, z.B. Namen, aber man dufte nicht an die Züge heran. Sie waren bewacht.

Kirchnerstr21_DieteraufBalkonKirchnerstr_um1937
Dieter Marcus um 1938 auf dem Balkon in der Kirchnerstraße
Kirchnerstr21_Erich_Dieter_Giebichenstein_1936
Dieter und Peter Marcus um 1940 auf der Burg Giebichenstein

Um 1942 verlor Emma Marcus ihre Wohnung. Der Hausbesitzer setzte sie und die Kinder vor die Tür. Der Fall wurde vor Gericht verhandelt, wobei ihre Ehe mit einem Juden in zweiter Instanz zu ihren Ungunsten gewertet wurde. In der Huttenstraße 83 fand Emma Marcus eine kleine Dreiraumwohnung, in der die vier die ersten sechs Wochen nur auf Mäntel gebettet auf dem Fußboden schliefen. Umzugswagen waren nicht zu bekommen, die meisten waren von der Wehrmacht beschlagnahmt worden. Den umfangreichen Hausstand aus der Kirchnerstraße hatte der dortige Hausbesitzer auf dem Speicher eingelagert und verlangte als Auslöse 400 RM, damals eine große Summe. Nachdem die Habseligkeiten der großen 8-Raum-Wohnung in der Kirchnerstraße herbeigeschafft worden waren, lebte die Familie äußerst beengt in der neuen Wohnung.

Erich, Dieter und Peter galten nach den damaligen Bestimmungen als „Halbjuden“, die Ehe der Eltern als „privilegierte Mischehe“. Dass die Kinder nicht jüdisch erzogen wurden und der Vater fort war, wurde von den Behörden zu ihren Gunsten ausgelegt. Dennoch erlitten die Kinder zahlreiche Ausgrenzungen verschiedener Art.
Dieter erinnert sich an Beschimpfungen und körperliche Angriffe von Kindern im Viertel, aber auch an Freundschaften, die dem gesellschaftlichen Druck standhielten. So mit Werner Koch, der einen kommunistischen Vater hatte. Erich, der die Friedrich-Nietzsche-Schule, Oberschule für Jungen (heute Hans-Dietrich-Genscher-Gymnasium) besuchte, war sehr eng mit seinem Klassenkameraden Hans-Dietrich Genscher befreundet. Für diesen spielte der jüdische Hintergrund seines Freundes keine Rolle. Er besuchte Familie Marcus in der Kirchnerstraße und empfing Erich in seinem Zuhause. Beide hielten noch über Jahrzehnte Kontakt.

Emmas Söhne wurden von der Polizei auch belehrt, dass sie keine Beziehung zu nichtjüdischen Mädchen haben dürften. Die Mutter protestierte und verwies auf das geringe Alter der Jungen. Die Polizei entgegnete, die Belehrung sei Vorschrift.

1942 musste Erich mit 15 Jahren das Gymnasium verlassen und konnte trotz guter Noten nicht, wie geplant, das Abitur ablegen. Gegen eine Lehre als Maurer oder Zimmermann, die das Arbeitsamt für ihn vorgesehen hatte, wehrte sich seine Mutter mit Hinweis auf Erichs gute Schulnoten. Sie brachte ihn schließlich im Labor des Zementwerks Nietleben unter. Dort wurde er nach etwa einem Jahr, im Mai 1944, von der Gestapo abgeholt und in einen Zug Richtung Normandie gesetzt. Das betraf viele Männer, die in Mischehen lebten, „Halbjuden“, „wehrunwürdige“ Schwerverbrecher sowie „Zigeuner“, sie wurden nun den Arbeitsbataillonen der Organisation Todt zur Zwangsarbeit zugewiesen.
Erich Marcus war vom 10.5.1944 bis 30.9.1944 in einem Lager in Mantes. In der Region nordwestlich von Paris musste er als Streckenarbeiter zerstörte Gleisanlagen in Stand setzen. Die Arbeit war schwer und gefährlich. In der Regel wurde 12 Stunden am Tag gearbeitet bei schlechter Verpflegung und weiten Fußmärschen zu den Einsatzorten. Die Zwangsarbeiter trugen holzbesohlte Schuhe und helle Arbeitsanzüge aus Drillich, die für die alliierten Piloten bei den ständigen Tieffliegerangriffen nach der Invasion in der Normandie besonders gut sichtbar waren.     
Zahlreiche Häftlinge nutzten im Wirrwarr des alliierten Vormarsches Situationen wie Fliegerangriffe, um sich abzusetzen. So tat es auch Erich Marcus. Weil er bei einem dieser Angriffe unterwegs zu einem neuen Einsatzort war, hatte er seinen Koffer mit Zivilkleidung dabei. So gelang es ihm, sich unerkannt bis nach Halle durchzuschlagen. Hier wurde er jedoch auf der Straße erkannt und denunziert.  Gemeinsam mit 15 anderen Männern und Jungen, darunter zwei 14-Jährigen, wurde der damals 17-jährige Erich Marcus am 1.11.1944 in das Arbeits- und Erziehungslager Sitzendorf in Thüringen gebracht. Die Unterkunft, zunächst ohne Wasser, Licht und Betten, befand sich in einer still gelegten Porzellanfabrik im zwei Kilometer entfernten Unterweißbach. Im Lager waren etwa 200 Häftlinge, vor allem „Jüdische Mischlinge“, aber auch Polen, Russen, Franzosen und Italiener. Die Männer, die aus ganz unterschiedlichen Berufen kamen oder bis kurz zuvor noch Schüler gewesen waren, mussten nun schwere körperliche Arbeit für die Troma-Werke leisten. Ihre Aufgabe bestand vorrangig in der Errichtung von Gebäuden, die für die Herstellung von Katalysatoren zur Erzeugung von Spezial-Flugkraftstoffen genutzt werden sollten. In dieser Zeit, ab Sommer 1944, wurden zahlreiche solche Projekte in der Landesmitte, in abseits gelegenen Tälern und Stollen, begonnen.

Kirchnerstr17_Sitzendorf um 1950
Sitzendorf um 1950. Der Einsatzort der Häftlinge befand sich links der Bahngleise. Bauliche Reste waren damals noch zu sehen.

Anfang April 1945 näherten sich die Amerikaner Thüringen. Die deutschen Bewacher verließen nach und nach eigenmächtig das Lager. In dieser Situation entkam Erich Marcus und versteckte sich die letzten Kriegstage bei seiner Mutter in der Huttenstraße 83. Seit dieser Zeit begleitete ihn ein Nervenleiden, das ihn bis zu seinem Lebensende nicht losließ. Über seine Zeit in der Normandie und in Sitzendorf hat Erich mit seiner Familie niemals gesprochen.
  
Währenddessen hatte sich Siegfried Marcus nach Kräften bemüht, in New York Fuß zu fassen. Seine Rückfahrkarte nach Rotterdam verkaufte er. Der Erlös stellte sein Startkapital dar. Zunächst kaufte er Haushaltswaren wie Rasierklingen, Schuhcreme und Schnürsenkel, klingelte an fremden Haustüren und verkaufte die Artikel dort aus einem Koffer heraus, etwas teurer, als er sie selbst eingekauft hatte. Da er mit seinem Besuchsvisum keine offizielle Arbeitserlaubnis bekam, nahm er andere Tätigkeiten an, wie z.B. als Lieferjunge. In einem Apartmenthaus hatte er ein einzelnes Zimmer gemietet. Als im April 1939 sein Bruder Erich mit Ehefrau Karola nach New York kamen, wohnten sie dort sogar eine Weile gemeinsam. Als sein Besuchsvisum nach mehrmaliger Verlängerung abgelaufen war, musste Siegfried Marcus die USA verlassen. Er fuhr nach Havanna/Kuba, um von dort im April 1941 legal, aber als Staatenloser, in die USA einreisen zu können. Das Deutsche Reich hatte ihn inzwischen ausgebürgert.
Nun bekam er auch eine Arbeitserlaubnis und fand eine legale Arbeit im Jumbo Store in der Bronx, wo er kassierte und Waren auspreiste. Hier wurde er später Teilhaber.

Kirchnerstr21_Siegfried Marcus_Jumbo Store
Siegfried Marcus (rechts außen) im Jumbo Store in der Bronx / New York

Vom Jumbo Store, der einen großen Elefant auf dem Dach hatte, berichtete er seinen Kindern auf einer Postkarte nach Halle, bevor mit dem Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 kein direkter Postverkehr mehr zwischen beiden Ländern möglich war. Sein Bruder Erich Marcus arbeitete währenddessen als Chauffeur und Butler, Karola als Dienstmädchen bei einer reichen Familie im Staat New York.  

Im Mai 1945 war der Krieg endlich zu Ende. Aber wie sollte die Familie nun wieder zueinander finden?
Während der kurzen Besetzung der amerikanischen Truppen von April bis Anfang Juli 1945 lernte der 13-jährige Dieter Marcus in Halle einen amerikanischen Soldaten kennen, der aus der Bronx in New York kam und zufällig sogar das Geschäft mit dem Elefanten kannte. Der Soldat schrieb seiner Frau nach New York, die den Laden aufsuchte und Siegfried Marcus prompt antraf. So wurde der Kontakt zwischen den Familienmitgliedern wieder hergestellt.
Finanzielle Unterstützung erhielt Emma ab Januar 1946 vom neu gegründeten Jüdischen Wiedergutmachungswerk. Auch waren sie und ihre Söhne als “Opfer des Faschismus“ anerkannt. Das Vermögen, was die Familie bis 1938 besessen hatte, war trotzdem unwiederbringlich verloren.
Im Juni 1946 wurde Emma Marcus und den drei Söhnen eine Wohnung in einem großen Haus mit Garten im Kiefernweg 3a zugewiesen, ganz nah am Heiderand. Hier wohnte die Familie etwa ein Jahr lang. Danach wurden dieses und weitere Häuser im Kiefernweg für Führungspersonal der Sowjetarmee zur Verfügung gestellt und Familie Marcus zog im September 1947 in die Heinrich-Heine-Straße 8.

Kirchnerstr21_EmmaOdF_um1946
Emma Marcus 1946
Kirchnerstr21_Kiefernweg
Erich, Dieter und Peter im Sommer 1946 im Kiefernweg
Kirchnerstr21_Erich und Dieter im Kiefernweg Schach
Dieter und Erich beim Schach im Kiefernweg

Die sowjetischen Behörden boten Siegfried Marcus über seine Frau an, er solle doch zurückkommen und könne hier Justizminister werden. Doch Siegfried Marcus wollte aus politischen Gründen keinesfalls in die Sowjetische Zone kommen. Seine Familie sollte zu ihm in die USA übersiedeln, was wiederum die Behörden nicht erlaubten. So veräußerte Emma nach und nach heimlich Teile des Hausstands und bezahlte mit dem Erlös einen Lastwagenfahrer, der sie und die Kinder in einer abenteuerlichen Fahrt über die Grenze nach Westberlin schmuggelte. Von Bremen aus bestiegen Emma und ihre Söhne mit finanzieller Hilfe der „Hebrew Immigrant Aid Society“ (HIAS) im März 1948 ein Schiff nach New York.
Hier bezog die nun wiedervereinte Familie eine gemeinsame Wohnung. Sie versuchten, die lange Zeit der Trennung zu überwinden und sich wieder anzunähern, was letztlich auch gut gelang.
Anfangs lebte noch Siegfrieds Bruder Erich gemeinsam mit der Familie. Seine Ehe mit Karola war 1946 in die Brüche gegangen. Erich Marcus starb im März 1975 in New York.
Emma Marcus lebte bis 1974, ihr Ehemann Siegfried Marcus starb 1979.
 
Die Kinder von Emma und Siegfried Marcus bauten sich ein eigenes Leben in den USA auf.
Erich Marcus wurde Doktor der Chemie und ein angesehener Forscher. Er heiratete die Hallenserin Jutta, die er kurz nach dem Krieg kennengelernt hatte, und die für ihn in die USA übergesiedelt war. Die beiden bekamen zwei inzwischen erwachsene  Kinder. Erich lebte bis zu seinem Tod 1998 in Charleston/West Virginia.
Dieter Marcus wurde Diplom-Ingenieur für Elektrotechnik und leistete zwei Jahre Militärdienst für die US Armee in Göppingen. Während dieser Zeit lernte er die deutsche Ärztin Christa Werner kennen, die seine Frau wurde. Er lebt in San Diego/Kalifornien, erforscht die Familiengeschichte und hält Kontakt zu allen Familienmitgliedern.
Peter Marcus entwickelte erfolgreich Kristalle, die für digitale Uhren und technische Instrumente benötigt werden. Er lebt in New York.

Kirchnerstr21_FamilieMarcus1967
Familienfoto 1967, von links: Siegfried Marcus, daneben sein Bruder Erich Marcus, Dieters Ehefrau Christa, Herbert Friedmann und Frau Lotte, die Söhne Dieter und Peter und ihre Mutter Emma Marcus rechts außen

Quellen und weiterführende Informationen:

Nachfahren von Siegfried und Emma Marcus, insbesondere Dieter Marcus

Stadtarchiv Halle, insbesondere Nachlass Goeseke

Archiv Centrum Judaicum Berlin

Arolsen Archives

Zur Geschichte der Familie Gassenheimer viele weitere Informationen unter https://judeninthemar.org/de/die-familie-samuel-und-lotte-geb-stein-gassenheimer/
- ein Projekt der kanadischen Forscherin Sharon Meen.

Georg Prick: Anwalt ohne Recht. Verfolgte Rechtsanwälte jüdischer Herkunft im OLG-Bezirk Naumburg während des Nationalsozialismus. Hrsg. von der Rechtsanwaltskammer Sachsen-Anhalt.

Universitätsbibliothek Greifswald, Dissertation von Dr. Siegfried Marcus: Die Haftung des redlichen Gläubigers nach beendeter Zwangsvollstreckung in bewegliche, dem Schuldner nicht gehörige Sachen. Universität Greifswald 1919, gedruckt in der Schlesingerschen Buchdruckerei Halle
Ab 1938 entzog die Universität Greifswald jüdischen Doktoren ihre akademischen Doktorgrade oder Ehrenwürden. Im Jahr 2000 wurden ihnen diese posthum wieder zuerkannt, auch Dr. Siegfried Marcus, mehr dazu hier https://www.uni-greifswald.de/universitaet/geschichte/universitaet-im-nationalsozialismus/rehabilitiert/

Erlebnisberichte von Halbjuden über den Zwangsarbeitseinsatz in Mantes:
- Wolfgang Tarnowski: Als Halbjude in Nazideutschland. In: Ingrid Lewek und Wolfgang Tarnowski: Juden in Radebeul. Radebeul 2008. S.65-67. Abrufbar hier: https://d-nb.info/1277270929/34
- Klaus Ulrich Rabe: »Das ist mein Credo: alles zu tun, dass das nicht wieder vorkommt.«. In: „Fragt uns, wir sind die Letzten“. Herausgegeben vom Berliner VVN-BdA. Teil 4. S.36-46. Abrufbar unter: https://berlin.vvn-bda.de/fragt-uns-wir-sind-die-letzten/

Henry Hatt: Deckname Steinbock II (Zingel, Molchfisch): Verlagerung der IG Farben (BASF) nach Unterloquitz. Books on Demand, 2014.

Privatarchiv Joachim Kränkel in Sitzendorf

Nieuw Amsterdam: Das Schiff, mit dem Siegfried Marcus in die USA entkam https://de.wikipedia.org/wiki/Nieuw_Amsterdam_(Schiff,_1938)