Von Silvia Zöller
Es war scheinbar ein ganz normaler Personenzug, der am 1. Juni 1942 im halleschen Bahnhof einfuhr. Und viele der Passagiere, allesamt jüdischen Glaubens stiegen ahnungslos ein. Durch Falschinformationen dachten sie, dass sie ins Ausland abgeschoben wurden. Doch tatsächlich war es der erste Todeszug aus Halle in das Vernichtungslager Sobibor an der polnisch-ukrainischen Grenze. 132 Frauen, Männer und Kinder aus Halle wurden noch am Ankunftstag ermordet.
Drei von ihnen waren die 62-jährige Thekla Cohn, ihre Schwiegertochter Recha Cohn - damals 28 - und ihre dreijährige Tochter Hannacha. Ein Stolperstein vor der ehemaligen Wohnung in der Feuerbachstraße 75 erinnert an ihr Schicksal. Und eine Lebensbeschreibung, die der nach Israel emigrierte Bruder von Recha Cohn, Yoram Grünspan, dem halleschen Verein Zeitgeschichten kürzlich überlassen hat, dokumentiert ihre Tragödie.
Die hübsche und künstlerisch begabte Recha Grünspan wird im thüringischen Sonneberg geboren. Ein Onkel lebt in München - vielleicht hat sie über ihn ihren zukünftigen Ehemann Richard Cohn kennengelernt, einen gebürtigen Hallenser und Juristen. Am 25. Januar 1938 heiraten beide in München. Sie verbringen die Flitterwochen in Palästina und werden von Verwandten, die bereits emigriert sind, überzeugt, zu bleiben. "Sie zögern, weil sie sich um Richards Eltern in Halle kümmern müssen", schreibt Grünspan.
Im Sommer 1938 zieht das frischverheiratete Paar in die Feuerbachstraße 75. Auch nachdem sie von verzweifelten Versuchen weiterer Verwandter erfahren, eine Einwanderungsgenehmigung nach Israel zu erhalten, werden sie nicht aktiv. Richards Bruder, der im Nachbarhaus wohnt, geht im Juli 1938 nach Paris.
Am 12. November 1938, also nur wenige Tage nach der Reichskristallnacht, wird das Baby Hannacha in Halle geboren. Und kurz darauf verhaftet die Gestapo Richard und bringt ihn nach Buchenwald. "Später wird er entlassen - unter der Bedingung, Deutschland unverzüglich zu verlassen", notiert Rechas Bruder. Von seinem Exil in England aus, versucht er vergeblich, Emigrationspapiere für seine Ehefrau zu bekommen.
Die Post zwischen den Eheleuten wird immer verzweifelter, im März 1940 schlägt Recha eine Auswanderung nach Bolivien vor. Bis zum Mai 1942 ist die 28-Jährige als "ehrenamtliche Mitarbeiterin" eines "Altersheims" in der Dessauer Straße tätig: "Dabei handelte es sich um ein Sammellager auf dem Gelände des jüdischen Friedhofs", erläutert Heidi Bohley vom Verein Zeitgeschichten. Kurz vor der Deportation erhalten alle vorgesehenen Juden ein Schreiben von der Gestapo: "Behördlicherseits ist uns versichert worden, dass für alle Transportteilnehmer am Zielort des Transportes anständige Unterkünfte und die Möglichkeit zur Beschaffung eines ausreichenden Lebensunterhaltes vorhanden ist."
Auch Recha, Hannacha und Thekla Cohn steigen in diesen Zug am 1. Juni ein.
Am 3. Juni 1942 wurden sie von den Nazis in Sobibor ermordet.