IN MEMORIAM
Christine Günther geb. Pankoke
* 9. Januar 1947
+ 9. Januar 2024 in Halle
Sie war mutig, wo Andere sich wegduckten
Ein Nachruf in Zitaten
Oktober 1982
Unterschriftensammlung gegen ein neues Wehrdienstgesetz, das die Eingliederung von Frauen in die NVA möglich machen sollte
Wenn ich mich recht erinnere war es eine Geburtstagsfeier in unserem großen
Freundeskreis und Heidi kam mit dem Schreiben, das die Berliner Frauen an den
Staatsratsvorsitzenden zum Thema Wehrdienstgesetz fertig gemacht hatten.
Wir besprachen die Idee, eine Unterschriftensammlung zu machen: Ich fand das
so toll und war sofort bereit, das zu machen. Als Studentin war ich ja nicht an
feste Arbeitszeiten gebunden und bin am nächsten Tag losgezogen und hab im
gesamten Bekanntenkreis und unter den Studentinnen und Pfarrfrauen
Unterschriften gesammelt.
1983
Besuch im Wehrkreiskommando
Ich mach einfach mal wieder auf naiv und hab ja keine Angst vor nix und
niemandem. Ich geh zum Wehrkreiskommando und frag, was das mit dem
neuen Wehrdienstgesetz auf sich hat…
Die Pförtnerin fragte, wo ich hin will. Ich sagte, na heute ist doch Sprechtag und
ich hätte gern jemanden gesprochen, der mir Auskunft zum neuen
Wehrdienstgesetz geben kann. Ein Mann kam auf den Flur und sie rief: „Herr
Major, Herr Major, hier ist eine junge Frau, die wissen möchte, ob sie jetzt ihren
Wehrdienst ableisten kann.“ Sie hatte mich sofort in die Kategorie junger
Mädchen eingeordnet, die jetzt unbedingt zur Armee möchten. Der Mann nahm
mich mit in ein Zimmer: „Was möchten Sie denn wissen?“ – „Gehe ich richtig in
der Annahme“ – ich habe immer so vorsichtig formuliert, damit er nicht zu
schnell mitkriegt, dass ich ihn total aushorchen will – „dass jetzt junge Frauen
die Möglichkeit haben, einen Wehrpass zu kriegen?“ – „Ja.“ – „Aber auf welcher
rechtlichen Grundlage machen Sie das denn? Im Wehrdienstgesetz steht doch,
dass sei nur im Rahmen einer Mobilmachung möglich.“ – „Naja wir leben doch
in der Mobilmachung. Wie stellen Sie sich denn eine Mobilmachung vor? Wenn
der Krieg schon angefangen hat?“
Das war so makaber. „Wir leben in ständiger Mobilmachung“, sagte der zu mir.
Ich hatte nicht erwartet, dass die das so offen sagen. Der lebte förmlich auf,
hatte offenbar nicht erwartet, dass da eine kommt, die ihn aushorchen will.
3. Juli 1983
Christine Günther spricht in der „Speakers Corner“ der Friedenswerkstatt Erlöserkirche Berlin-Rummelsburg für die FRAUEN FÜR DEN FRIEDEN HALLE
6. und 7. August 1983
Fasten für das Leben
Die Marktkirche in Halle hat eine wichtige Rolle gespielt für Veranstaltungen,
die man „draußen“ ja gar nicht hätte machen können. „Fasten für das Leben“
war besonders beeindruckend, weil wir auch in der Kirche übernachtet haben,
denn wer hat schon mal in einer Kirche übernachtet und ist am nächsten
Morgen zu einem Gottesdienst übergegangen.
Am 6. August 1983 begannen 13 Menschen in Paris, Oakland, Toronto und Bonn ein „unbefristetes Fasten für das Leben“. Ihre Forderungen waren: Keine Stationierung von Pershing-II-Raketen und Cruise Missiles in Europa im Zuge der „NATO-Nachrüstung“, Abbau der sowjetischen SS-20-Raketen und Einstellung aller
Atomwaffenversuche durch die Nuklearmächte. Dem Aufruf folgte auch die Ost-Berliner Gruppe FRAUEN FÜR DEN FRIEDEN. Auch die FRAUEN FÜR DEN FRIEDEN HALLE schlossen sich an – maßgeblich organisiert von
Christine Günther und den Halle-Neustädter „Hauskreisen“ um Lothar Rochau und Katrin Eigenfeld.
Quelle: https://www.opk-akte-verfasser.de/fasten.htm
24. September 1983
Unterschriftensammlung für die Freilassung von Katrin Eigenfeld
Wir hatten schon die Kontakte zu den Halle-Neustädter Jugendlichen und als
Katrin dann verhaftet wurde [am 31.8.83] haben wir verschiedene Aktivitäten
entfaltet und Eingaben geschrieben und alle möglichen Sachen gemacht. Dass
ich hunderte Unterschriften in Wittenberg beim Kirchentag sammeln konnte,
war einem Zufall zu verdanken, nämlich dem, dass die dort gerade einen
internationalen Empfang hatten und die Staatssicherheit durfte ohne den
[staatlichen] Beauftragten für Kirchenfragen nicht eingreifen. Der war aber bei dem
Empfang und so konnte die Staatssicherheit nichts machen. Die mussten zwei
Stunden zugucken, wie ich Unterschriften sammle, ohne eingreifen zu können.
Christine Günther übergab die Unterschriftenliste Probst Treu. Er wollte sie an die Kirchenleitung
weitergeben. Die MfS-Akten registrieren: „Eine namentlich bekannte Theologiestudentin aus Halle
sammelte in den Abendstunden des 24. September 1983 auf dem Lutherhof Wittenberg ca. 300
Unterschriften für die Freilassung der sich in Untersuchungshaft befindlichen Eigenfeld, Katrin [aus]
Halle (inhaftiert wegen staatsfeindlicher Hetze). Es war beabsichtigt, diesen Brief an mehrere
Landeskirchen zu übergeben. Auf Veranlassung der staatlichen Organe wurden die
Unterschriftenlisten durch Bischof Dr. Demke (Magdeburg) eingezogen.“
Was der damit gemacht hat ist nicht bekannt. Die Originalliste ist bis heute verschwunden.
1. November 1983
Entlassung von Katrin Eigenfeld aus 3-monatiger U-Haft
Da habe ich den ganzen Vormittag mit Katrins Eltern vor dem Roten Ochsen
gestanden, bin zwischendurch in die Uni, habe meine mündliche Prüfung in
Systematischer Theologie gemacht (mehr oder weniger gut) und als dann Katrin
rauskam, haben die uns aus dem Knast heraus mit riesigen Apparaten
fotografiert. Da muss es eine Menge Bilder geben, aber die sind in den Stasi-
Akten nicht gefunden worden.
Über Angst
Es gab ja viele, die Angst davor hatten, bespitzelt oder abgehört zu werden. Ich
habe gedacht, naja, die werden es machen und habe Vorkehrungen für meine
Kinder getroffen, aber zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Angst vor der
Staatssicherheit.
Erst jetzt beim Lesen der Akten ist mir so richtig deutlich geworden, was für
schweinische Pläne die da geschmiedet haben über uns, was sie so vorhatten.
Ob sie mich nicht kriminalisieren könnten und da sie mitgekriegt haben, dass ich
psychisch teilweise am Ende war, ob sie mich nicht nur für unzurechnungsfähig
erklären lassen und nach der Scheidung die Kinder entziehen lassen können, das
haben sie alles probiert.
Nach dem Mauerfall
wurde ich von Lothar Rochau, einem ehemaligen kirchlichen Mitarbeiter, der [in
der DDR] die Jugendarbeit in Halle-Neustadt aufgebaut hatte, gefragt, ob ich nicht
im Jugendamt mitarbeiten will und für Halle den Bereich Streetwork aufbauen
möchte .
Es gab dann auch Auseinandersetzungen in den Medien, weil wir z.B. toleriert haben,
dass „rechte Jugendliche“ in Halle-Neustadt ein Haus besetzt haben.
„Linke Jugendliche“ hatten da bereits in Halle mehrere Häuser besetzt, was von
der Stadt auch geduldet wurde.
Das hat dazu geführt, dass die Jugendlichen gelernt haben, mehr Verantwortung
zu übernehmen. Die „Rechten“ in Halle Neustadt hatten sich z.B. einen Führer
gewählt und haben dann auf engstem Raum sehr schnell gemerkt, dass sie sich
nicht unbedingt einem Führer unterordnen wollen. Sie baten dann uns, dafür zu
sorgen, dass der Führer abgesetzt wird. Das haben wir natürlich nicht gemacht
und ihnen gesagt, ihr habt ihn gewählt, nun müsst ihr ihn auch selber wieder
abwählen. Das hat dann nicht so gut geklappt, aber die Gruppe hat sich
zurückgezogen, sodass am Ende der Führer alleine in dem Haus war. Das war
dann das Ende der Hausbesetzung.
Heute haben wir einige dieser Jugendlichen sogar über ABM hier bei uns im
Jugendamt beschäftigt.
Dezember 2023
Eines der letzten Gedichte von Christine Günther
Carpe diem
Schwarzer Marmor – Schmeichelstein
Erinnerung an singendes Eis
Beim gemeinsamen jagenden Schlittschuhlauf
Stolpernd über Schilfsoden
Dann schwebender Tanz auf tiefschwarzem Eis
Reine Glückseligkeit, Freiheit, gefühlte Lebendigkeit
Ferner Tod in unendlicher Ewigkeit
Die Zitate wurden zusammengestellt und mit Anmerkungen versehen von Heidi Bohley.
Sie stammen aus dem Dokumentarfilm „Die Wespen“, Deutschland 1996
LA LONTRA Film&Video Produktion Julia Kunert,
das Gedicht „Carpe diem“ mit freundlicher Genehmigung von Undine Günther.