Rannische Straße / Ecke Großer Berlin

(ehemals Rannische Straße 7)

 

Hier wohnte Manfred Hödicke

Manfred Lothar Hödicke wurde am 1. Oktober 1935 in Halle geboren. Seine Eltern, die Arbeiterin Elfriede geb. Scharf (*1909 in Halle) und der Arbeiter Alfred Hödicke (*1909 in Halle) heirateten 1931. Elfriede brachte ein Kind mit in die Ehe. Es folgten fünf gemeinsame Kinder, darunter Manfred Hödicke. Ende 1941 wurde die Ehe wieder geschieden. Bis dahin hatte die Familie im Hinterhaus der Rannischen Straße 7 gewohnt. Das Haus steht nicht mehr, an gleicher Stelle steht heute ein Neubau.

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An der Ecke Rannische Straße / Großer Berlin stand das Wohnhaus von Manfred Hödicke

Nach der Scheidung trennten sich die Wege der einzelnen Familienmitglieder: Vater Alfred heiratete Anfang 1942 erneut, Mutter Elfriede zog an die Adresse Trödel 11. Keines der Kinder lebte fortan bei den Eltern. Das erste Kind der Mutter war bei seinen Großeltern mütterlicherseits in der Ludwig-Wucherer-Straße 20 untergebracht. Von den fünf weiteren Kindern befanden sich zwei „in Pflege“ und drei, darunter auch Manfred, „in Fürsorgeerziehung“, also im Kinderheim.

Seit Frühjahr 1941, da war er 5 Jahre alt, lebte Manfred Hödicke im Kinderheim in der Klosterstraße 5 (heute Sitz des Kinderschutzhauses und einer Kindertageseinrichtung). Die Krankenakte nennt zwar auch das Kinderheim „Adelheidsruh“ (heute Schopenhauerstraße 4), sie ist jedoch kritisch zu lesen, da teils widersprüchliche, falsche und von der NS-Ideologie geprägte Angaben enthalten sind.

Das Personal empfand Manfred Hödicke als große Belastung. Vor diesem Hintergrund bat das Jugend- und Fürsorgeamt Ende 1942 die Universitätsklinik um Prüfung, „ob bei Manfred weitere Erziehung, die im Rahmen einer Fürsorgeerziehung durchgeführt werden müßte, Erfolg verspricht, oder ob etwa [...] Einweisung in die Landesheilanstalt in Frage kommt.“

Im selben Schreiben heißt es über das Kind:
Manfred macht erhebliche Schwierigkeiten. Es bestehen Unklarheiten, ob er, der jetzt schulzurückgestelltt wurde, überhaupt erziehungsfähig ist. Der Junge ist störrisch, schweigsam und nur selten einmal gehörsam, in der Regel wiedersetzt er sich allem, was ihm gesagt wird und zwar werden seine Schäden seit Jahren von den verschiedensten Erzieherinnen beobachtet. Er ist Tieren gegenüber roh, reißt den Fliegen die Flügel aus. Er ist heimtückisch und stets dabei, irgendwelche Dummheiten zu machen. Seine Stimmungen sind außerordentlich wechselnd“.

Bei seiner Einweisung in die „Klinik für Nerven- und Geisteskranke der Universität Halle“ in der Julius-Kühn-Straße am 12. Januar 1943 wurde Manfred Hödicke von einer Erzieherin begleitet. Befragt zu ihrem Schützling, gab sie an, dass „der Vater schon einige Gefängnisstrafen hinter sich habe und von der Mutter geschieden sei. Die Mutter sei wohl zur Zeit sehr krank.“ Bereits im Schreiben des Jugend- und Fürsorgeamtes wurde der soziale Hintergrund des Patienten betont: „Manfred ist ehelich, die Eltern sind geschieden [...]. Es sind 5 eheliche und 1 außereheliches Kind der Frau vorhanden.

Die Universitätsklinik äußerte sich allerdings kritisch gegenüber den Auskünften von Erzieherin und Heim: sie seien spärlich und zum Teil falsch. Beispielsweise gebe die Erzieherin an, dass Manfred nur eine ältere Schwester habe. Gemeint war damit wohl eine Schwester, die im selben Kinderheim untergebracht war. Von Manfreds anderen Geschwistern hatte sie wohl keine Kenntnis. Weiter habe die Erzieherin über Manfred berichtet: „Er sei dort in der Kindergemeinschaft untragbar, sei jähzornig, unberechenbar, schlage mit jedem Gegenstand der in greifbarer Nähe sei, auf die anderen Kinder ein. Auch sexuell sei er nicht einwandfrei. Außerdem sei er Bettnässer. In der Schule versage er ganz. Sei nicht zu bewegen Schulaufgaben zu machen, habe überhaupt kein Interesse an der Schule.

Drei Monate verbrachte Manfred Hödicke in der Universitätsklinik Halle. Dort wurde er untersucht und sein Verhalten beobachtet. Im Patientenbericht steht: „Verhält sich in den ersten Tagen soweit ruhig u. geordnet, sitzt meist für sich alleine, äußert keine Wünsche, an ihn gerichtete Fragen müßen wiederholt werden bevor er antwortet. […] Gibt man ihm einen Auftrag so führt er selben aus, blickt dabei zum Fußboden.“ Drei Tage später heißt es: „Ist jetzt etwas freier u. lebhafter, zeigt ein hinterlistiges u. verstocktes Wesen. [...] Hört nicht auf Ermahnungen. Neckt die anderen Patienten, ärgert Hilflose.

Weiter wurde in den folgenden Wochen im Patientenbericht festgehalten:
„Macht sich draußen beim Spielen sehr schmutzig, muß häufig neue Kleidung haben. […]
Beim Essen benimmt er sich etwas linkisch u. ungeschickt
. […]
[E]s wird versucht ihn nochmal zum schreiben zubewegen. An den Tisch gesetzt macht er einen geistig abwesenden Eindruck. Durch längeres Zureden nimmt er den Bleistift, welchen er recht ungeschickt anfaßt und macht 2 der vorgeschriebenen Buchstaben nach, dann ist nichts mehr mit ihm anzufangen, auch ein Bonbon zieht nicht.

Im Februar 1943 wurde bei Manfred Hödicke die damals relativ neue Elektroschocktherapie angewandt. Sie habe den Patienten zwar „für einige Zeit etwas fügsamer gemacht“, aber „kein auffallender Erfolg“.
Am 10. März 1943 lautete die Diagnose: „Gemütsarmer, hemmungsloser Psychopath“. Zwar wurde in den nächsten Wochen auch positives Verhalten dokumentiert, dass er z.B. versucht sich von selbst nützlich zuerweisen“ oder nicht mehr einnässt. Doch war wohl die Verlegung in eine Landesheilanstalt zu diesem Zeitpunkt bereits beschlossene Sache, denn die Universitätsklinik füllte Anfang April ein Formular für die Aufnahme des Patienten in eine Heilanstalt aus. In diesem wurde neben „Psychopathie“ die Diagnose „Debilität“ (leichter „Schwachsinn“) und „mäßiger Hxdrocephalus“ (gemeint ist wohl Hydrocephalus, „Wasserkopf“) gestellt, was aber in der Krankenakte weder davor noch danach erwähnt wird. In der Folge war einzig die Einstufung als “Psychopath“ relevant.

Im Nationalsozialismus wurde der Begriff der „Psychopathie“ sehr weit gefasst. Als „Psychopathen“ galten u.a. Menschen, die nicht in geordneten Verhältnissen lebten oder Sozialleistungen bezogen. Es war eine pseudowissenschaftliche Kategorie, die soziale Aspekte und Krankheitsmerkmale vermischte. Die psychiatrische Diagnose „Psychopath“ bildete im Nationalsozialismus die Grundlage für die Unterbringung und „Behandlung“ von Menschen in psychiatrischen Einrichtungen, wo viele von ihnen ermordet worden sind.

Am 29. April 1943 wurde Manfred Hödicke in die Landesheilanstalt Uchtspringe in der Altmark verlegt, wo sich schon einer seiner Brüder befand.

Uchtspringe_1
Postkarte, um 1900

Mehr Bedeutung als in Halle wurde hier der Selbstbefriedigung des Patienten beigemessen, die sowohl als sittlich verwerflich als auch für die Gesundheit schädlich angesehen wurde. Darauf wurden u.a. Manfred Hödickes „dauernd tiefe Schatten unter den Augen“ wie auch sein unangepasstes Verhalten zurückgeführt. 

Am 20. Mai 1943 erfolgte die Verlegung Manfred Hödickes in das Gebäude 20 innerhalb der Anstalt. Hier befand sich seit Juni 1941 eine von deutschlandweit mindestens 31 sogenannten Kinderfachabteilungen. Sie waren direkt der Kanzlei des Führers unterstellt. Ziel dieser Einrichtungen war es, Kinder und Jugendliche durch überdosierte Medikamente, bewussten Nahrungsentzug und Vernachlässigung zu ermorden.

Im Juni 1943 attestiert der Patientenbericht:
Haltloser, asozialer Psychopath, welcher keinerlei Besserung verspricht. Verlogen, verstockt. Strafen fruchten überhaupt nicht. Wahrscheinlich schwerer Onanist. Verhalten zu den anderen Kindern schlecht, wird von denen abgelehnt. Völlig aussichtsloser Fall. Verbrechertyp.“

Manfred Hödickes weiterer Weg ist maßgeblich durch die Einschätzungen bestimmt, dass es sich bei ihm um „angeborene Leiden“ handele, der Patient „nicht erziehungsfähig“ und nur „in beschränktem Maße“ bildungsfähig sei. Eine Behandlung oder Förderung Manfred Hödickes wurde damit ausgeschlossen. Ziel seines Aufenthalts in der "Landesheilanstalt" Uchtspringe war nicht Heilung. Dass er nicht sofort ermordet wurde, war gängige Praxis, um bei Angehörigen und anderen kein Misstrauen zu wecken. Schließlich war hier eine moderne Behandlung der Patienten versprochen worden.

Zwei Monate lang gibt es keine Notizen in Manfred Hödickes Patientenbericht. Plötzlich war im September jedoch von schwerer Kreislaufschwäche und Brechdurchfall die Rede. Am 8. September 1943 wurde dann Manfred Hödickes Tod attestiert. Zu diesem Zeitpunkt war Manfred sieben Jahre alt. Todesursache waren angeblich schwere Kreislaufstörungen, Brechdurchfall sowie Psychopathie.
Der Todesfall Manfred Hödickes fiel in jene Zeit bis Anfang September 1943, in der unter Dr. Gerhard Wenzel (1941-1943 Leiter der Kinderfachabteilung Uchtspringe) als „nicht bildungsfähig“ beurteilte Kinder mit Überdosen des Betäubungsmittels Luminal ermordet worden sind. Wahrscheinlich wurde auch Manfred Hödicke mittels des sogenannten Luminal-Schemas ermordet. Dabei wurde Luminal über mehrere Tage drei Mal täglich leicht überdosiert verabreicht. Bei der systematischen Unterernährung der Patienten führte dies in kurzer Zeit zum Tod durch Lungenentzündung. Paul Nitsche entwickelte diese Methode 1940 in der Heilanstalt Leipzig-Dösen. Sie war insofern unauffällig, als dass Luminal damals ein gängiges Beruhigungsmittel und die offizielle Todesursache der Patienten eine natürliche war.

Der Mord an Manfred Hödicke ist in die Phase der „dezentralen Euthanasie“ einzuordnen, die auf die „Aktion T4“ folgte. In diesem Rahmen wurden in mehr als 100 psychiatrischen Einrichtungen, darunter auch mindestens 31 Kinderfachabteilungen, Menschen ermordet. Die Zahl der Opfer beträgt etwa 100.000 Personen (wobei die Zahlen je nach Quelle zwischen 90.000 und 200.000 Opfern schwanken).

Angehörige wurden über den tatsächlichen Zustand der Patienten, über deren „Therapie“ und „Behandlung“ und letztlich auch über deren Tod getäuscht.

Ob Alfred Hödicke vom Tod seines Sohnes erfuhr, ist unklar. Die an ihn adressierte Todesmeldung kam als unzustellbar zurück. Es darf zudem bezweifelt werden, dass dem Vater die postalische Nachricht über die Beerdigung drei Tage später, am 11. September 1943 auf dem Anstaltsfriedhof in Uchtspringe, rechtzeitig erreicht hätte.
Manfreds Mutter erfuhr vom Tod ihres Sohnes. Mit ihrer Unterschrift bestätigte sie, die Kleidung ihres verstorbenen Sohnes entgegen genommen zu haben. Elfriede Hödicke starb 1944, ein Jahr nach ihrem Sohn, an den Folgen einer schweren Geburt. Über das Leben der Geschwister Manfred Hödickes ist derzeit nichts bekannt.

Gisela Rebarz (→Gerberstraße/Ecke Bornknechtstraße) und Christa Ruhmann (→Schopenhauerstraße 4) waren weitere Opfer aus Halle, die in der Landesheilanstalt Uchtspringe ermordet worden sind.

Quellen und weiterführende Informationen:

andesarchiv Sachsen-Anhalt (Landesarchiv Sachsen-Anhalt, C 98 Uchtspringe, Nr. 1390)

Kriemhild Synder: Die Landesheilanstalt Uchtspringe und ihre Verstrickung in nationalsozialistische Verbrechen, in: Psychiatrie des Todes. NS-Zwangssterilisation und „Euthanasie“ im Freistaat Anhalt und in der Provinz Sachsen, Magdeburg, 2001, S. 75-96
https://stgs.sachsen-anhalt.de/fileadmin/Bibliothek/STGS/Bernburg/Psychiatrie_des_Todes_-_Teil_1.pdf

Hallesche Adressbücher

Stadtarchiv Halle (Saale)

Mehr Informationen zur „Euthanasie“ im Nationalsozialismus und zur „T4-Aktion“:
https://gedenkort-t4.eu/wissen/aktion-t4
https://www.t4-denkmal.de/Die-Aktion-T4

Mehr Informationen zur „dezentralen Euthanasie“:
https://www.t4-denkmal.de/Dezentrale-Euthanasie