Rudolf-Ernst-Weise-Straße 5
(ehemals Königstraße 29)
Hier wohnte Dr. Willy Cohn
Willy Cohn wurde am 20. Juli 1888 in Roßleben, Kreis Querfurt geboren. Seine Eltern waren der jüdische Kaufmann Julius Cohn (1858-1932) und die evangelische Brauereibesitzertochter Clara Therese Scholz (1860-1916).
Im Jahr 1900, Willy war zwölf Jahre alt, zog die dreiköpfige Familie nach Halle in die Magdeburger Straße 55. Hier betrieb Julius Cohn auch sein neues Gewerbe: „Julius Cohn & Co - Bank und Immobiliengeschäft“.
Willy legte das Abitur am Stadtgymnasium ab und studierte danach Rechtswissenschaften und Nationalökonomie, zunächst in Halle, dann in München. Am Oberlandesgericht in Naumburg legte er die Referendarprüfung ab und promovierte anschließend 1914 an der Universität Leipzig.
Von Januar 1915 bis November 1918 diente Willy Cohn als Unteroffizier im Ersten Weltkrieg. Er war als Gerichtsschreiber im Fronteinsatz und führte eine Hilfsdienststelle der Armee. Zu dieser Zeit kannte er schon die neun Jahre jüngere Gertrud Katz, mit der er sich bei seinen Heimatbesuchen traf.
Gertrud Katz wurde 1897 in Duderstadt geboren. Wenige Wochen nach ihrer Geburt zog die jüdische Familie nach Halle. Ihre Eltern waren der Bankier Alfred Katz (-> Stolperstein Hansering 2) und seine Frau Helene. Gertrud studierte ab 1917 Philologie, zunächst in Halle, später ebenfalls in München. Als Willy aus dem Krieg zurückkam, verlobte sich das Paar.
Um in die Bank „Friedmann & Co“ (heute Hansering 2) seines Schwiegervaters in spe einsteigen zu können, belegte Willy Cohn 1919 einen kaufmännischen Kurs für Kriegsheimkehrer an der Handelskammer Magdeburg und absolvierte ein Volontariat beim Bankgeschäft „S.H. Oppenheimer Junior“ in Hannover. Gertrud verabschiedete ihn montags regelmäßig am halleschen Hauptbahnhof.
Im Februar 1920 begann Willy Cohn bei „Friedmann & Co“ zu arbeiten, wurde ab 1923 neben seinem Schwiegervater Alfred Katz sogar Mitinhaber der Bank. Als Jurist war er für alle steuerrechtlichen Fragen zuständig.
Am 23. Februar 1920 heirateten Gertrud Katz und Willy Cohn in Halle. Der standesamtlichen Trauung folgten am nächsten Tag eine religiöse Zeremonie, eine große Feier, Flitterwochen in Leipzig und im Harz sowie der Einzug in eine geräumige Wohnung in der Ludwig-Wucherer-Straße 28.
Für die Einrichtung steuerte Willy Cohns Vater einen großen Esstisch aus Eiche bei, den man für vierundzwanzig Personen ausziehen konnte.
1921 erblickte die erste Tochter, Eva Maria Clara, das Licht der Welt. An den Wochenenden bekam die kleine Familie nun häufig Besuch von der Verwandtschaft. Die Samstage verbrachte Gertrud meist in der Küche, wo sie Kuchen backte und kaltes Abendbrot für die Gäste vorbereitete. Sonntags kam Meissner Porzellan auf kunstvoll bestickten Tischdecken zum Einsatz. Im Sommer reiste man an die Ostsee, traf Freunde, besuchte Feste und ging zum Tanz. Es war eine glückliche Zeit für die Familie, die nun auch noch weiter wuchs.
Am 25. Oktober 1928 wurden die Zwillinge Hanna Ruth und Hans Gerhard geboren. Gertrud hatte nun für drei kleine Kinder zu sorgen. Willy Cohn war beruflich viel unterwegs und besuchte abends häufig noch seinen Klub. Er war auch „Alter Herr“ im Burschenbunds-Convent, einem Dachverband farbentragender Studentenverbindungen. Die Herren, dabei u.a. auch Kurt Bauchwitz (-> Stolperstein Gr. Ulrichstraße 2) und Albert Müller (-> Stolperstein Alber-Schweitzer-Str. 54) unterhielten in Halle einen Stammtisch.
1930 zog die Familie in eine neue Wohnung in der Kaiserstraße 10 (heute Willy-Lohmann-Straße 10).
Ein Jahr später hielt die Bank „Friedmann & Co“, wie viele andere kleine, private Banken, der Weltwirtschaftskrise nicht stand und musste schließen. Willy Cohn arbeitete nun als Grundstücksmakler und belieferte Landwirte im halleschen Umland mit landwirtschaftlichen Artikeln. Seitdem war er noch mehr unterwegs als zuvor. Die Ehe zerbrach und wurde im März 1935 geschieden. Gertrud Cohn zog mit den Kindern zu ihren Eltern am Adolf-Hitler-Ring 2 (heute Hansering 2).
Willy Cohn zog in die Königstraße 43 und begann eine neue Tätigkeit als kaufmännischer Angestellter bei „Merkur“, einem Konfektionsgeschäft für Damen- und Herrenmode in der Großen Ulrichstraße 4-5.
Bereits nach einem Jahr endete diese Tätigkeit wegen „Umstellung des Unternehmens“. Der jüdische Unternehmer Arthur Mundstock bedauerte die Kündigung und stellte Willy Cohn ein sehr gutes Zeugnis aus, bevor er selbst das Land verließ. Danach betätigte sich Cohn erneut als Grundstücks- und Hypothekenmakler sowie in der Haus- und Vermögensverwaltung.
Gertrud und Willy Cohn behielten trotz Trennung ein gutes Verhältnis und kümmerten sich gemeinsam um die Kinder. Insbesondere sonntags unternahm der Vater Ausflüge mit ihnen und verwöhnte sie.
Noch im März 1935 wurde Willy Cohn zur Erinnerung an den Ersten Weltkrieg mit einem von Reichspräsident Hindenburg gestifteten „Ehrenkreuz für Frontkämpfer“ ausgezeichnet. Die Urkunde ist unterzeichnet vom halleschen Polizeipräsidenten, der seinen Sitz im Polizeipräsidium am Hallmarkt hatte.
Genau hierhin wurde Willy Cohn nur drei Jahre später gebracht und von dort weiter in das KZ Buchenwald deportiert. Er gehörte zu jenen tausenden jüdischen Männern, die im Zuge der Pogromnacht am 9. November 1938 deutschlandweit in Konzentrationslager gebracht wurden. Knapp einen Monat verbrachte Willy Cohn in Buchenwald, bis er am 7.12.1938 wieder entlassen wurde. Seine Tochter Eva hatte ihm 20 Mark Fahrgeld geschickt, mit denen er die Heimreise bezahlen konnte.
Als nun auch jüdische Kinder aus den Schulen verbannt wurden und sich die gesamte Lebenssituation für Juden stark verschlechterte, suchte die Familie nach Möglichkeiten zur Emigration. Zuvor war das keine Option gewesen, denn Gertrud hätte ihre kranke Mutter, die sie bis zu ihrem Tod im Mai 1938 gepflegt hatte, nicht allein zurückgelassen.
Willy Cohn zog noch einmal um, in die Königstraße 29, die heutige Rudolf-Ernst-Weise-Straße 5. Sein Schwiegervater Alfred Katz, Gertrud und die Kinder hatten ab Ende 1938 ein paar Häuser weiter Zuflucht gefunden, in der Villa der befreundeten Familie Schloß (-> Stolpersteine Rudolf-Ernst-Weise-Straße 20).
Die älteste Tochter Eva war inzwischen 17 Jahre alt und versuchte über Ausbildungsvisa nach Australien oder Großbritannien zu gelangen. Hilfe erhielt sie von Gertruds Schulfreundin Mary Caro geb. Haldinstein, zu der Gertrud seit einem gemeinsamen Jahr auf einer internationalen Schule für höhere Töchter in Lausanne Kontakt gehalten hatte. Sie besorgte Eva einen Ausbildungsplatz zur Krankenschwester und damit ein Visum für Großbritannien. Obwohl Eva eher in die kaufmännische Richtung strebte, nahm sie das Angebot an und verließ Deutschland im Mai 1939. Gertrud bemühte sich gleichzeitig für die Zwillinge Hanna und Hans um Plätze auf einem „Kindertransport“ nach England. Hanna hatte in Halle die Luisenschule besucht und dort schon etwas Englisch gelernt. Hans war seit April 1938 im Internat der Israelitischen Gartenbauschule Ahlem bei Hannover, wo die Kinder auf eine spätere Auswanderung nach Palästina vorbereitet wurden.
Mary Caro half auch hier. Von England aus übernahm sie die Bürgschaft für die Zwillinge und sorgte dafür, dass ihre Namen auf eine der Kindertransportlisten kamen. Sie beschleunigte den Vorgang zusätzlich, in dem sie angab, die Bürgschaft gelte nur, wenn die Zwillinge mit dem nächsten Transport kommen könnten.
Fünf Tage vor dem Reisetermin bekam Gertrud die Nachricht, dass die Zwillinge mit dem 20. Kindertransport ausreisen können. Sie waren zu diesem Zeitpunkt 10 Jahre alt.
Der Zug verließ Halle am 4. Juli 1939. In Hannover stiegen die halleschen Kinder in einen aus Berlin kommenden Zug um.
In Holland wurden die Kinder an den Bahnhöfen freudig begrüßt, erhielten Verpflegung und bestiegen dann ein Schiff nach England. Ein berühmt gewordenes Foto zeigt Hanna Cohn mit ihrer Puppe „Evelyn“ im Arm am Londoner Bahnhof Liverpool Station, wo Mary Caro die Kinder abholte. Auf dem Foto sitzen neben Hanna zwei Mädchen aus Breslau, die auch im Transport waren. Das Foto zierte am folgenden Tag die Titelseiten einiger Zeitungen.
Im Gepäck hatte jeder der Zwillinge auch ein Fotoalbum, angefertigt von ihrem Vater Willy. Darin waren viele Familienfotos, von ihm mit Hand beschriftet. Hannas Exemplar wird heute im Imperial War Museum in London aufbewahrt.
Gertrud wollte zwar ihren Vater Alfred Katz nicht in Halle allein lassen, fühlte sich aber auch für ihre Kinder verantwortlich. Als ihr über Mary Caro eine Stelle als Gesellschafterin bei deren Mutter angeboten wurde und sie so eine Aufenthaltserlaubnis für England erhielt, zögerte sie nicht. Auch Willy Cohn bestärkte sie, zu den Kindern zu reisen. Er wollte später auf illegalen Wegen nachkommen.
Am 11. August, drei Wochen vor Kriegsausbruch, verließ Gertrud Cohn Deutschland. Vorausgeschickt hatte sie Kisten mit Wäsche und Porzellan, Familienandenken und anderen Habseligkeiten. Alfred Katz verabschiedete seine Tochter am Hamburger Hafen - traurig und zugleich glücklich über die Fluchtmöglichkeit.
Gertrud und Willy Cohn hatten sich vor der Abreise wieder angenähert, Willy bereute inzwischen die Trennung von Frau und Familie. Sie versprachen sich, sobald wie möglich wieder beieinander zu sein. Ein englisches Visum war für ihn unerreichbar, auch weil er die Altersgrenze von 45 Jahren für Arbeitsvisa bereits überschritten hatte. Dennoch hatte er sich einige, für eine Emigration notwendige, Papiere, ein Führungszeugnis sowie eine Schuldenfreiheitsbescheinigung besorgt.
Willy Cohn verließ Halle am 10. August 1939, am selben Tag wie Gertrud, allerdings in Richtung Brüssel. Die Grenze überschritt er illegal.
Nach dem deutschen Überfall wurde Willy Cohn 1940 in Belgien verhaftet, an die französische Polizei überstellt und nach Saint Cyprien deportiert. In diesem Küstenstädtchen nahe der spanischen Grenze befand sich direkt am Strand gelegen ein improvisiertes Internierungslager, das bereits 1939 von den französischen Behörden für die zahlreichen Flüchtlinge aus Spanien nach dem Sieg Francos angelegt worden war. Im Lager mangelte es an frischem Wasser und Lebensmitteln, Krankheiten breiteten sich aus. Aus Saint Cyprien schrieb Willy Cohn am 5. August 1940 einen Brief in französischer Sprache an seine Tochter Eva, deren Adresse in England ihm bekannt war. Den nächsten Brief von ihm erhielt die Familie am 16. März 1941. Inzwischen hatten die französischen Behörden Willy Cohn und andere deutsch-jüdische Lagerinsassen in das Lager Gurs am Fuße der Pyrenäen verlegt. Hier hatte er sich freiwillig zur Gartenarbeit gemeldet und pflegte die Beete des französischen Roten Kreuzes. Wie er an die Familie schrieb, waren die Nachrichten von Gertrud und den Kindern, auf die er sehnlichst wartete, seine einzige Freude.
Den letzten Brief aus Gurs schrieb Willy Cohn am 20. Juli 1942 an seine Familie, dieses Mal in deutscher Sprache:„Erfüllt mir meine dringende Bitte, soweit es in Euren Kräften steht. Die Hilfe von Eurer Seite ist eine direkte Lebensnotwendigkeit für mich. Wenn ich etwas verlange, so ist es tatsächlich ein „SOS“ Ruf in der höchsten Potenz. Das Rot Kreuz Paket ist leider nicht angekommen.“
Der zweiseitige Brief endet mit den Worten„Ich sehne mich nach über 2 jähriger Internierung nach Hause. Aber, wo ist denn mein Haus? Wo Du bist meine Trudy, da bin ich daheim, und überall sonst ist die Fremde, die Kälte, liebelose Fremde, und ich habe einen einzigen Wunsch und meine ganze Seele und alle meine Kräfte streben seiner Erfüllung zu: aus dem sonnenlosen und düsteren Dasein unter der hohen hellen Sonne eines neuen Tages mit Dir Hand in Hand einzuziehen in ein neues Leben als zwei neue Menschen. Ich umarme Euch und küsse Euch alle 4. Gott schütze Euch! Herzinnigst Euer treuer Vaty“.
Kurz nach diesem Brief, noch im Juli 1942, wurde Willy Cohn aus Gurs in das Sammellager Drancy bei Paris gebracht. Nahezu alle Züge, die von dort abgingen, fuhren in Vernichtungslager. Am 10. August 1942 wurde Willy Cohn nach Auschwitz deportiert.
Von den 525 jüdischen Frauen und 475 jüdischen Männer dieses Transports, fast ausschließlich nach Frankreich geflohene deutsche Juden, erhielten nach der „Selektion“ nur 140 Männer und 100 Frauen eine Häftlingsnummer. Die übrigen wurden in den Gaskammern ermordet. Zu ihnen gehörte der 54-jährige Willy Cohn.
Der 72-jährige Alfred Katz wurde am 29. Juni 1942 in Halle tot aufgefunden, er hatte sich selbst das Leben genommen. Seine Tochter Gertrud und die Enkelkinder überlebten den Zweiten Weltkrieg in England. (weiterführende Informationen -> Stolperstein Hansering 2)
Quellen und weiterführende Informationen:
Enkelinnen von Gertrud und Willy Cohn, Helen und Debora Singer
Nachlass Gudrun Goeseke im Stadtarchiv Halle
Nachlass Volkhard Winkelmann im Stadtarchiv Halle sowie Eintrag zu Willy Cohn im Gedenkbuch für die Toten des Holocaust in Halle
Hallesche Adressbücher
Arolsen Archives
Dissertation von Willy Cohn, Thema: „Gesetzlicher Schutz der Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse unter Berücksichtigung der außerdeutschen Gesetzgebung“, Universitätsbibliothek Leipzig (Signatur: Lpz.,Jur.Diss.,Cohn, Willy, 1915)
Marcel Bervoets: La Liste de Saint Cyprien. Brüssel 2006.
abrufbar unter https://www.ushmm.org/media/dc/HSV/source_media/all_cataloging/general/pdf/source_33334_prepablog.pdf
Mystery of Holocaust escape girls solved after 84 years: https://www.bbc.com/news/uk-england-tyne-66040197
Verzeichnis der Alten Herren des Burschenbunds-Convent, Berlin 1929
https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/burschenbunds_convent1929/0045/image,info
sowie: https://de.wikipedia.org/wiki/Burschenbunds-Convent