Reilstraße 18


Hier wohnten Markus Kanner, sein Sohn Salomon David Kanner mit Amalie Kanner geb. Azderbal und den Töchtern Ruth, Eva und Lea Kanner

Der Kaufmann Markus Kanner wurde 1858 in Mielec, Galizien geboren. Mit seiner Frau Sprinze (1858-1927) hatte er sechs Kinder: Elke (*1879), Fanny (*1881), Moritz (*1884), Amalie (*1891), Anna Helene (*1896) und Salomon David (*1898). Die ersten drei Kinder wurden noch in Polen geboren, die folgenden schon in Halle an der Saale.

Markus Kanner war in einem jiddischsprachigen, orthodoxen Umfeld aufgewachsen. Für sein Auskommen trieb er Handel mit allerlei Gebrauchsgegenständen und brachte sich im Selbststudium mit Hilfe von Tageszeitungen Deutsch und Polnisch bei. Mit seinem kleinen Gewerbe war er erfolgreich, konnte eine Familie gründen und nach Deutschland auswandern. In Halle eröffnete er ein Geschäft und besaß schon wenig später weitere Läden mit Textilien und Waren des täglichen Bedarfs. Die Familie wohnte zunächst in der Martinsgasse, dann in der Franckestraße, später dem Graseweg. Gemeinsam mit anderen orthodoxen, meist aus Polen stammenden Juden, feierte Markus Kanner den Gottesdienst nach orthodoxer Tradition im kleinen Gemeindehaus neben der Synagoge.

Nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich Markus Kanner zur Ruhe. Die Läden vermachte er seinen Kindern. Nach dem Tod seiner Frau Sprinze 1927 lebte Markus Kanner zuletzt bei seinem jüngsten Sohn Salomon in der Reilstraße 18. Im Erdgeschoss dieses Hauses betrieb Salomon ein Wäsche- und Textilgeschäft. In den zwei Zimmern hinter dem Laden lebten Vater und Sohn.
1929 heiratete Salomon die in Leipzig aufgewachsene Amalie Azderbal. Auch Amalies Familie stammte ursprünglich aus Galizien, das damals zu Österreich-Ungarn gehörte, heute ein Teil von Polen und der Ukraine ist. Ihr Vater Moses Azderbal kam aus dem Ort Budzanow (heute Westukraine). Dort wurde auch Amalie am 30.10.1904 geboren, kurz vor der Auswanderung nach Leipzig. Moses arbeitete als fahrender Händler, der das Leipziger Umland mit Waren versorgte, die es auf dem Land nicht zu kaufen gab. Seine Frau führte einen Schuhladen in der Eisenbahnstraße. Dort arbeitete später auch Amalie, bis sie nach der Heirat nach Halle zog.

Als sich Nachwuchs ankündigte, zog das Paar von der Ladenwohnung im Erdgeschoss in eine geräumige Wohnung im 3. Stock. Die Familie bekam drei Töchter: Ruth (*1929), Eva (*1931) und Lea (*1936).
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten erlebte die Familie Bedrohung und Ausgrenzung im Alltag. Der Laden überstand jedoch den Boykott jüdischer Geschäfte, auch wenn die Familie sich nun einschränken musste. Die Frage nach einer möglichen Auswanderung wurde zum beherrschenden Thema im Freundes- und Familienkreis. Auch Amalie und Salomon bemühten sich früh um Visa für Palästina.

1935 unternahm Salomon zunächst sogar eine Besuchsreise dorthin, um die Lebensbedingungen für seine Familie zu erkunden. Er kehrte zurück nach Halle mit dem Ziel, auf offizielle Visa zu warten.
Am 28. Oktober 1938 kam der 80jährige Markus Kanner gerade von seinem täglichen Spaziergang zu den Geschäften seiner in Halle lebenden Kinder zurück, als er vor der Reilstraße 18 von zwei Polizisten erwartet wurde. Er solle mit zur Polizei am Hallmarkt kommen, es würde nur eine Stunde dauern. Die Familie sah Markus nie wieder. Er hatte noch die polnische Staatsbürgerschaft und wurde gemeinsam mit etwa 120 anderen halleschen Juden in der deutschlandweit durchgeführten sogenannten „Polenaktion“ mit dem Zug an die Grenze zu Polen gebracht. Die deutsche Regierung wollte 1938 die zugewanderten Juden loswerden, aber Polen wollte sie nicht aufnehmen. Und so irrten die einfach an der Grenze ausgesetzten Menschen durchs Niemandsland. Manche schlugen sich über die grüne Grenze in ihre polnischen Geburtsorte durch, andere wurden nach tagelangem Warten dann doch offiziell über die Grenze gelassen.

Markus kehrte zurück in seinen Geburtsort Mielec und lebte dort bei seiner Stiefschwester, die er das letzte Mal gesehen hatte, als er den Ort über 40 Jahre vorher verlassen hatte. Die deutsche Wehrmacht nahm Mielec am 13.9.1939 ein. Kurz danach brannten die deutschen Besatzer die Synagoge mit 80 Menschen darin nieder. Die Lebensbedingungen wurden in Mielec nun sehr schlecht. Von den rund 5000 Mielecer Juden überlebten nur etwa 300 die Besatzung. Markus Kanner verstarb im Frühjahr 1940 unter ungeklärten Umständen.

Am 10. November 1938, um 2.30 Uhr in der Frühe wurde die Familie Kanner in der Reilstraße von lautem Klopfen geweckt. Polizisten stürmten in die Wohnung und verhafteten Salomon Kanner. Die Wohnung wurde durchwühlt, Bargeld gestohlen. Die Scheiben des Geschäfts waren zerschlagen, der Inhalt zerwühlt und geplündert. Amalie Kanner musste die Scherben unter Aufsicht zusammenfegen, es wurde angeordnet, dass die Scheiben bis zum nächsten Tag zu ersetzen sind. Salomon wurde, wie zahlreiche andere in der Pogromnacht verhaftete jüdische Männer, in das Konzentrationslager Buchenwald gebracht.

Amalie war nun allein mit den Mädchen. Den Laden musste sie ohne Gegenwert an einen neuen, nichtjüdischen Besitzer abgeben. Die intensiven Bemühungen in Berlin, Visa für Palästina zu erhalten, scheiterten trotz wöchentlicher Vorsprache endgültig. Amalie gelang es allerdings nun, für Salomon eine Aufenthaltserlaubnis für Frankreich zu erhalten, die seine vorzeitige Entlassung aus dem KZ Buchenwald bewirkte. Am 10.12.1938 kam Salomon nach Hause, Mitte Januar 1939 verließ er Halle in Richtung Paris.
Die Wohnung in der Reilstraße 18 musste Amalie verlassen. Grundlage war das „Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden“, nachdem Juden nicht mehr mit Ariern unter einem Dach wohnen durften. Die drei Mädchen wohnten fortan bei ihrem Leipziger Großvater Moses Azderbal. Dessen Haus war als „Judenhaus“ deklariert worden. In seine Wohnung waren 13 weitere Juden eingewiesen worden, für die Benutzung von Küche und Bad gab es nun aufgeteilte Benutzungszeiten. Amalie kam in Halle in einem „Judenhaus“ in Bahnhofsnähe unter und fuhr fast täglich zu den Kindern nach Leipzig.
Im Juli 1939 erhielt Amalie Visa für Frankreich und flog mit ihren Kindern nach Paris. Als Ausfuhr waren pro Person 10 Reichsmark erlaubt. Hier trafen sie Salomon wieder und lebten in einem Zimmer eines kleinen Hotels. Unterstützung kam von Amalies Schwester Hannah, die mit ihrem Mann Hermann Felber bereits früher nach Frankreich emigriert war. Mit Kriegsausbruch wurde Salomon als deutscher Staatsbürger interniert, zunächst in Damini, später in einem Barackenlager in Bordeaux.
Amalie, die nun wieder auf sich allein gestellt war, fand für Ruth und Eva Plätze in einem Kinderheim des jüdischen Kinderhilfswerks (OEuvre de secours aux enfants - OSE) in der Villa Helvetia in Montmorency. Im Juli 1941 verließen die beiden ältesten Töchter Ruth und Eva das Kinderheim in Montintin im Rahmen eines Kindertransportes. Mit dem Zug erreichten sie Portugal und entkamen per Schiff in die USA.
Ab Januar 1940 arbeitete Amalie notgedrungen zeitweise getrennt von ihren drei Kindern als Köchin in mehreren Kinderheimen des OSE, in Eaubonne, Montintin, Le Couret, Ponponiere und Brout Vernet. Als Jüdin und deutsche Staatsbürgerin war sie stets von Verhaftung bedroht, eine offizielle Arbeitserlaubnis bekam sie nicht. Im Kinderheim in Montintin traf sie im Oktober 1940 wieder auf Salomon. Bei Herannahen der deutschen Wehrmacht war er von den Franzosen freigelassen worden und nach einer Odyssee über das Lager Gurs zu seiner Familie gelangt. Er verdingte sich nun für Kost und Logis als Hausmeister im Kinderheim.

Aufgrund der drohenden Gefahr einer Verhaftung übergaben die Eltern im Juli 1942 die erst 5jährige Lea der französischen Widerstandsbewegung (Résistance), die versprach, Lea sicher unterzubringen. Mehrfach versuchten Gendarmen, Amalie und Salomon im Kinderheim zu verhaften. Sie wurden jedoch gewarnt und versteckten sich wochenlang in den Bergen und im Wald, später in der Stadt Limoges, wo sie nahezu täglich das Quartier wechselten.
Im Januar 1943 wurden sie dennoch aufgegriffen und in das Transitlager Nexon verbracht. Amalie meldete sich freiwillig zur Arbeit als Assistentin der Krankenschwester des Roten Kreuzes. Dies rettete ihr und Salomon wohl das Leben. Die Krankenschwester sorgte dafür, dass Beide bei Räumung des Lagers nicht mit auf den Transport nach Drancy und von dort in die Vernichtungslager gehen mussten. Stattdessen kamen sie in das unter französischer Aufsicht stehende Lager Gurs, wo die Lebensbedingungen etwas besser waren. Im Juni 1943 wechselte Amalie in das offene Lager La Maise und kam dann bei einer Bekannten in Limoges unter.

Salomon meldete sich freiwillig zur Arbeit in einer Fabrik in Toulouse und wurde später nach Calais gebracht, wo er schwere körperliche Arbeit beim Ausbau des Atlantikwalls leisten musste. Von 5 Uhr morgens bis Sonnenuntergang schleppte er Zementsäcke. Nach der Erkenntnis, dass er das nicht lange überleben würde, wagte er eine abenteuerliche Flucht nach Limoges, wo er am 1.1.1944 wieder mit seiner Frau zusammentraf. Durch Vermittlung der Résistance arbeitete Salomon bis Kriegsende unter falschem Namen für die französische Eisenbahn, Amalie war als Haushälterin auf einem Bauernhof.

Amalie und Salomon erwarteten nach der Landung der Alliierten in der Normandie sehnsüchtig deren kriegerische Erfolge gegen die Deutschen. Als Frankreich befreit war, sah auch die kleine Lea ihre Eltern wieder. Mehr als zwei Jahre hatte sie unter anderer Identität in einem Kloster und später auf einem Bauernhof verbracht und war nun sieben Jahre alt. Salomon, Amalie und Lea wollten nicht dauerhaft in Frankreich bleiben, sondern in die USA zu ihren Töchtern Ruth und Eva reisen.

Bis zur Beschaffung der Visa verging viel Zeit. Die Schiffstickets bezahlte Amalie, indem sie den Kaffee verkaufte, den ihre Schwester Hannah aus Amerika in ihren Paketen geschickt hatte. Im Frühling 1946 wurden Salomon, Amalie und Lea am Hafen von New York City von Hannah, Ruth und Eva erwartet. Eltern und Kinder hatten sich vier Jahre nicht gesehen und die meiste Zeit keine Nachricht voneinander erhalten können.

Die Familie baute sich in New York eine neue Existenz auf und fand nach und nach wieder zusammen, die Zeit der Trennung hatte Spuren hinterlassen. Nun kam auch Nachricht vom Schicksal weiterer Familienangehöriger. Amalies Vater Moses Azderbal konnte zwar 1940 von Leipzig nach Holland fliehen, wurde aber gefasst und vom KZ Westerbork nach Auschwitz deportiert, wo er im Januar 1943 ermordet wurde.

Amalies Schwester Edith wurde in Frankreich verhaftet und vom Sammellager Drancy nach Auschwitz gebracht, wo sie im September 1942 gleich nach ihrer Ankunft ermordet wurde. (-> STOLPERSTEINE liegen für Beide in Leipzig, Nordstraße Ecke Ernst-Pinkert-Straße, Verlegung am 14.9.2022)

Von Salomons fünf Geschwistern überlebten drei in Tel Aviv und Bolivien. Die Spur seiner Schwester Amalie (-> STOLPERSTEIN Sternstr. 11) verliert sich 1942 in Debica/Polen, Fannys Lebensspur endet 1941 im Ghetto Minsk (-> STOLPERSTEIN Große Steinstraße 30).

Die in den USA lebenden und durch das jüdische Kinderhilfswerk (OSE) geretteten Kinder sahen sich 1989 erstmals wieder zu einem großen Treffen, an dem auch Amalie und Salomon teilnahmen.

Salomon starb 1996 mit 97 Jahren. Er erlebte noch die Geburt seines ersten Urenkels.

Die Herausgabe des Buches „Shattered Chrystals“ (Zerbrochenes Kristall), das Tochter Eva aus den Erinnerungen ihrer Mutter 1997 veröffentlicht hatte, erfüllte Amalie Kanner mit Genugtuung. Amalie starb 2001 mit 96 Jahren in New York City.

An der Verlegung der STOLPERSTEINE im Herbst 2022 nahm Eve Kugler teil, die 1931 in Halle als Eva Kanner geboren wurde sowie Janet Rosen, Tochter ihrer Schwester Ruth Kanner.

Quellen

Mia Amalia Kanner und Eve Rosenzweig Kugler: Shattered Chrystals
Website und englische Online-Ausgabe des Buches

Fotos: Familienarchiv Eve Kugler

Stadtarchiv Halle

Datenbank Yad Vashem

Lilly Maier: Arthur und Lilly. Das Mädchen und der Holocaust-Überlebende – Zwei Leben. Heyne Verlag 2018.
Ein Buch über das Schicksal Arthur Kerns, der in den Kinderheimen der OSE in Frankreich untergebracht war und auch über das dortige Wirken Amalie Kanners berichtet.

Über das Leben von Juden in Mielec: https://sztetl.org.pl/de/stadte/m/138-mielec/99-geschichte/137666-geschichte-der-gemeinde sowie Town of Mielec (englisch)